Ihr Auftritt sorgte für mächtig Aufsehen. Während im russischen Staatsfernsehen Channel One die Nachrichten im Live-TV laufen, rannte Marina Owsjannikowa (44) mit einem Plakat hinter die sprechende Moderatorin. «Kein Krieg! Glaubt der Propaganda nicht! Sie lügen euch an!», stand auf dem Plakat auf Russisch geschrieben. Rund fünf Sekunden war die Frau zu sehen, ehe ein anderer Beitrag ausgestrahlt wird.
Owssjannikowa ist für ihre Aktion bereits zu einer Geldstrafe von 30'000 Rubel (rund 230 Franken) verurteilt worden. Möglicherweise droht ihr aber noch eine weitere Strafe. Befürchtet wird, dass die 44-Jährige nach dem neuen Mediengesetz belangt werden könnte, das bis zu 15 Jahre Haft vorsieht.
Die Initiative «Gesichter für Demokratie» hat nun mit Owssjannikowa ein Gespräch geführt. Blick darf in Absprache mit der Initiative das Interview veröffentlichen.
Frau Owsjannikowa, was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Marina Owsjannikowa: Demokratie bedeutet für mich, als freier Mensch leben zu können. In letzter Zeit hat sich mein Heimatland Russland jedoch in einen totalitären Staat verwandelt – einen Staat – der sich zunehmend von der Aussenwelt abschottet. Das betrifft auch die Kommunikation. Faktisch alle unabhängigen Medien wurden gesperrt oder als «ausländische Agenten» eingestuft – die meisten sozialen Medien sind nicht mehr erreichbar. Die Menschen in Russland haben somit fast ausschliesslich Zugang zu staatlich gelenkter Informationspropaganda. Die Folge: Ein Informationsvakuum, welches wir – wie auch immer – überwinden müssen.
Ich bin immer gerne gereist und habe mit vielen verschiedenen Menschen gesprochen. Daher sind demokratische Werte für mich keine leeren Floskeln. Ganz im Gegenteil: Sie bringen zum Ausdruck, dass sich die Menschen in Russland mit der ganzen Welt austauschen und ihren Standpunkt vertreten können, anstatt als gehorsame Sklaven in einem totalitären Land zu leben!
Lassen Sie uns über Ihre Plakat-Aktion in der Live-Sendung des russischen Staatsfernsehens vom 14. März sprechen. Wie genau kam es dazu?
Der Protest ist seit vielen Jahren in mir gereift. Ich war mit der Politik des Senders «Perwy kanal» nicht einverstanden, ebenso mit einigen anderen Dingen, die in unserem Land passierten und noch passieren. Es brodelte in mir, aber aus persönlichen Gründen konnte ich nicht sofort kündigen. Das änderte sich jedoch schlagartig mit Beginn des Krieges. Mir war klar, dass ich keinen Tag länger für «Perwy kanal» arbeiten kann. Als spontane Reaktion wollte mich auf den Weg zum «Maneschnaja-Platz» machen, um dort zu protestieren, aber im letzten Moment hielt mich mein Sohn auf.
Die Idee mit der Plakat-Aktion hatte ich am darauffolgenden Wochenende. Ich ging in den Schreibwarenladen um die Ecke, kaufte einen Textmarker und etwas Papier. Zu Hause zeichnete ich das Plakat. Und bereits am Montag wusste ich: Wenn, dann muss es heute passieren. Mein ursprünglicher Plan war, mich mehr im Hintergrund des Fernsehstudios zu platzieren. Doch im letzten Moment spürte ich einen starken «emotionalen Impuls». Ich beschloss, ins Studio zu laufen, eine Sicherheitsabsperrung zu überwinden und mich direkt hinter die Moderatorin zu stellen.
Alles ging blitzschnell. Die Sicherheitsbeamtin hatte keine Zeit sich zu orientieren, geschweige denn zu verstehen, was gerade passiert ist. Noch nie in der 50-jährigen Geschichte von «Wremja» ist etwas Derartiges geschehen.
Nach wenigen Sekunden verliess ich ruhig das Studio, ging den zentralen Korridor entlang und die gesamte Führungsriege von «Perwy kanal» kam mir bereits entgegen. Ich musste im Büro des stellvertretenden Leiters eine schriftliche Erklärung abgeben. Dann eskortierte mich die hinzugerufene Polizei in mein Büro. Es herrschte eine unwirkliche Stimmung. All die anwesenden Kolleginnen und Kollegen standen einfach nur da und sahen mich mit überraschten Augen an. Sie haben nicht verstanden, wie so etwas überhaupt passieren konnte.
In der deutschen Talkshow «Markus Lanz» sagten Sie, Sie wollten die Menschen in Russland wachrütteln, die von der russischen Propaganda zu «Zombies» gemacht wurden. Denken Sie, das ist Ihnen gelungen?
Gemessen daran, dass in meinem Umfeld die meisten Menschen genauso denken wie ich, ist es schwer zu beurteilen, wie erfolgreich die Aktion letztendlich war. Meine Freunde, Nachbarn und Bekannte unterstützen mich, so gut es geht. Viele Menschen schreiben mir oder kommentieren meine Aktion in den sozialen Medien. Aber wenn ich die Menschen frage, warum sie nicht auf die Strasse gehen, warum sie nicht aktiv werden, lautet die Antwort meist: «Wir haben Angst. Es ist besser, sich nicht in die Politik einzumischen!»
Seit dem 4. März drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für missliebige Berichterstattung. Was bedeutet das für den Journalismus?
Nein, das reicht natürlich nicht! Die Menschen bilden sich ihre Meinung, aber die staatliche Propaganda in Russland ist sehr gut entwickelt. Erst heute habe ich in einer aktuellen Umfrage gelesen, dass 81 Prozent der Menschen in Russland Putins «Aktionen» unterstützen. Ich weiss nicht, ob dieses Umfrageergebnis wahr ist und ob man diesen Daten vertrauen kann. Meiner Wahrnehmung nach unterstützen mehr als die Hälfte der Russen diesen Krieg nicht.
Am Samstag fanden erneut Proteste in Moskau und vielen weiteren Städten in Russland statt. Mehrere Dutzend Personen wurden festgenommen. Aber die breite Masse hält still. Dennoch gibt es einige Menschen in Russland, die bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen: Ihr Leben sowie das Leben ihrer Familien - alles für den aktiven Protest!
Sie sagten, Sie sind überrascht, dass Sie bislang noch nicht für die Plakat-Aktion verurteilt wurden. Denken Sie, Wladimir Putin nutzt Ihre mediale Öffentlichkeit, um sich als Verfechter der Rechtsstaatlichkeit zu inszenieren?
Nach der Plakat-Aktion haben die Verantwortlichen von «Perwy kanal» eine Woche lang geschwiegen. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollen. Sie haben mich anhand aller verfügbaren Quellen überprüft. Und nicht nur mich – auch meine Verwandten. Erst eine Woche später ging mein direkter Vorgesetzter Kirill Kleimyonov mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, in dem behauptet wird, ich sei eine britische Spionin. Völlig absurd! Seitdem habe ich das Gefühl, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden.
Viele Menschen stellen mir die eine Frage: «Warum bist du nicht im Gefängnis?» Ich denke, dass es der russischen Propaganda bis zu einem gewissen Grad recht ist, wenn ich mit westlichen Medien kommuniziere. Wahrscheinlich ist meine Bekanntheit – zumindest derzeit – für den Kreml von Vorteil. Ich kann nicht sagen, was die führenden FSB-Kräfte unseres Landes denken. Aber es gibt aktive Aufrufe, mich hinter Gitter zu bringen. Ein neues Verwaltungsverfahren wurde eingeleitet – zwei Tage später jedoch zurückgezogen. Jetzt warten meine Anwälte darauf, welche Anklagen erhoben werden. Wir warten ab, was als Nächstes passiert.
Halten Sie eine «Normalisierung» der Beziehungen unter Wladimir Putin für realistisch?
Nein! Unter Wladimir Putin sind diese Beziehungen unmöglich zu normalisieren. Russland hat in den letzten zehn Jahren eine aggressive Propaganda gegen den Westen und alle westlichen Werte betrieben. Seit zehn Jahren wird den Menschen hierzulande suggeriert, dass der Westen versucht, Russland zu zerstören. Dass Amerika und Grossbritannien unsere Feinde sind, ebenso die westlichen Medien. Diese Propaganda wiederholt sich in den «wahnsinnigen» Shows im Fernsehen – es gibt Shows, in denen Ukrainer durchweg als Nationalisten und Faschisten bezeichnet werden.
Wenn sie zehnmal wiederholen, dass «Schwarz» eigentlich «Weiss» ist, dann glauben die Menschen irgendwann daran. Wir waren all die Jahre im Fernsehen sehr aggressiv, in sämtlichen Medien gab es staatliche Informationspropaganda, die sich speziell gegen den Westen richtete. Eine ganze Generation ist mit Putins Propaganda aufgewachsen. Einfach schrecklich! Ich denke, dass sich unter Wladimir Putin rein gar nichts ändern wird. Das wird nur möglich sein, wenn eine neue Politiker-Generation gewählt wird – eine Generation, die nicht in den Mustern des Kalten Krieges denkt. Erst dann können wir unsere geschundenen Beziehungen zum Westen wieder «kitten».
Wie hat Ihre Familie und Ihr privates Umfeld auf Ihre Protest-Aktion im russischen Fernsehen reagiert?
Die Situation ist sehr schwierig. Mein Sohn, meine Mutter und ich haben völlig gegensätzliche politische Ansichten. Meine Mutter gehört zur älteren Generation. Sie hört von morgens bis abends Staatspropaganda, hört Wladimir Solowjow zu. Daher ist es unmöglich, mit ihr zu sprechen oder sie von etwas anderem zu überzeugen. Ich habe oft versucht, eine Art Dialog mit ihr aufzubauen: «Mama, ich arbeite. Ich weiss, wie es geht, hör mir zu…» Nein, sie versteht nichts, sie antwortet mit auswendig gelernten Floskeln aus dem Fernsehen oder Radio. Dass der Westen unser Feind ist, dass alle unser Land zerstören wollen.
Deshalb kann ich nicht länger als fünf Minuten mit meiner Mutter sprechen. Wir haben vollkommen konträre Wertvorstellungen. Wenn wir anfangen, über politische Themen zu reden, endet das immer im Streit. Also versuche ich erst gar nicht, mit ihr darüber zu reden.
Auch mein Sohn unterstützt mich nicht. Er sagt, ich hätte das Leben der Familie ruiniert. Auch, weil ich mich habe scheiden lassen. Hinzu kommt, dass sein Vater, also mein Ex-Mann, für einen anderen Propagandakanal der Regierung arbeitet – für «RT». Wir stehen also auf zwei entgegengesetzten Seiten des Informationskrieges. Er unterstützt die Kreml-Propaganda voll und ganz. Ich hingegen habe liberalere Ansichten. Demzufolge vermittelt mein Ex-Mann unseren Kindern seine Werte, während ich versuche, ihnen eine andere Sichtweise beizubringen.
Meine Tochter ist zum Glück noch klein. Sie versteht die politischen Zusammenhänge nicht. Aber sie spürt, was gerade in und mit unserer Familie passiert.