Blick: Herr Ceipek, Sie haben 1998 das Kinderschutzzentrum Drehscheibe in Wien gegründet und bis letztes Jahr geleitet. Was tut es genau?
Norbert Ceipek: Die Drehscheibe kümmert sich um unbegleitete Minderjährige. Sie werden beispielsweise von der Polizei aufgegriffen und ins Zentrum gebracht. Hier kommen sie vorübergehend unter. Man versucht, Vertrauen aufzubauen, um ihre Identität herauszufinden. Über ein internationales Netzwerk können sie dann zu ihren Familie zurückgeführt oder in der Heimat in anderen Krisenzentren untergebracht werden. Wenn sie Opfer von Menschenhändlern sind, helfen wir den Ermittlern, an die Hintermänner zu kommen.
Welche Rolle spielte der Menschenhandel in Ihrem Alltag?
Eine grosse Rolle. Oft sind die Minderjährigen Strassenkinder. Meist sind es Roma. Sie betteln oder stehlen. Acht- bis 14-jährige Buben und Mädchen. Sie kommen aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Slowenien, Serbien oder Bosnien-Herzegowina.
Wie gelangen diese Kinder nach Europa?
Sie reisen mit ihren Eltern an, die ebenfalls betteln. Oder sie wurden in ihrer Heimat an andere Roma-Clans verkauft.
Was erleben die Kinder hier?
Meist müssen die Mädchen betteln gehen. Sie sind geschickter. Die Buben stehlen. Wenn sie nicht genug heranschaffen oder zu oft erwischt werden, straft man sie mit Schlägen oder mit Essensentzug. Die Mädchen werden auch zur Prostitution gezwungen, damit sie den Verlust wieder hereinholen.
Steckt eine Mafia hinter dieser Art Menschenhandel?
Mafia würde ich es nicht nennen. Organisierte Kriminalität ist es schon. Das Traurige ist: Es sind Roma, die andere Roma ausbeuten.
Auch die Schweiz kennt das Problem mit den bettelnden Kindern.
Ich wurde vor einigen Jahren von Schweizer Behörden angefragt und sollte in Bern eine Art Drehscheibe aufbauen. Dort sollte ein Krisenzentrum für die Bettelkinder entstehen. Das Interesse war sehr gross. Auch auf Seite der Fedpol und der Zürcher Polizei.
Was wurde aus dem Projekt?
Kaum wurde es über die Medien publik, waren alle Bettler mit einem Schlag weg. Die Hintermänner waren offenbar nervös geworden. Werden die Kinder aufgegriffen, ist das nicht nur ein finanzieller Verlust, die Kinder könnten auch die Hintermänner verraten.
Wie lukrativ ist das Geschäft mit dem Betteln?
Es ist ein Riesengeschäft und fast ausschliesslich in der Hand der Roma. Ob im Herkunftsland oder im Ausland. Man muss sich vorstellen, dass jeder mittellose Roma im Laufe seines Lebens irgendwann einmal gebettelt hat. Da ist die Familie, die ins Ausland betteln geht. Da sind zwielichtige Agenturen im Herkunftsland, die angebliche Arbeitsplätze im Ausland vermitteln. Dann gibt es die Banden, die gezielt Opfer suchen, die sie zum Betteln zwingen. Schliesslich ist da noch die Familie mit einem Behinderten. Der wird gegen eine Gebühr an die Bettelbanden vermietet.
Würden Sie das Betteln verbieten?
Ein Erwachsener, der für sich allein bettelt, der soll das tun können. Betteln mit oder durch Kinder gehört verboten. Wenn plötzlich in einer Stadt zehn Behinderte auftauchen, die am Tag zuvor noch nicht da waren, dann stecken Banden dahinter. Da muss sofort zugegriffen werden. Am wirksamsten sind die Krisenzentren. Mit Eröffnung der Drehscheibe ging die Zahl der Bettelkinder in Wien um 84 Prozent zurück. So kann man den Bettelbanden am besten das Handwerk legen.
Morgen Teil 5: Jamina (22) aus Marokko ist 13 Jahre alt, als sie in die Schweiz gelockt und als Hausmädchen versklavt wird.