Wie angekündigt trat Theresa May (60) gestern um elf Uhr aus der schwarzen Tür von 10 Downing Street. Wenige Minuten zuvor hatten ihre Mitarbeiter die wichtigsten Journalisten der Hauptstadt zusammengetrommelt.
Sie rätselten, was May ihnen so plötzlich zu sagen hatte. Würde sie etwa zurücktreten? May ist zuckerkrank, hatte aber bisher betont, dass dies ihre Arbeit nicht beeinträchtige.
Die Spekulationen lösten sich sogleich in Luft auf. Denn schon im ersten Satz kam May zur Sache: Nach Beratung in ihrem Kabinett habe sie sich entschlossen, Neuwahlen anzusetzen. Für den 8. Juni. Dies sei im «nationalen Interesse», weil das Land in den Brexit-Verhandlungen einig und berechenbar auftreten müsse.
Zweidrittel-Mehrheit benötigt
Die Premierministerin gönnt Grossbritannien also keine Verschnaufpause. Nach dem Entscheid zum EU-Austritt im vergangenen Juni, dem Rücktritt von Premierminister David Cameron (50), der Neubildung einer Regierung und dem baldigen Start in die mühsamen Brexit-Verhandlungen mit der EU könnte also bald noch eine wegweisende Wahl auf der Insel stattfinden.
Eigentlich sollte erst 2020 gewählt werden. Für eine vorgezogene Parlamentswahl muss sich May im Unterhaus eine Erlaubnis einholen – wofür es seit 2011 eine Zweidrittel-Mehrheit braucht. Das britische Parlament wird heute Nachmittag über Mays Vorlage abstimmen.
Mehrmals hatte sich die Premierministerin zuvor gegen Neuwahlen ausgesprochen. Nun sagt sie, sie seien nötig, weil die Opposition den EU-Austritt boykottieren wolle: «Es sollte Einigkeit in Westminster herrschen, stattdessen herrscht Zwietracht – das Land steht zusammen, Westminster aber nicht.» Für den Brexit brauche Grossbritannien aber eine starke und stabile Führung.
Legitimation vom Volk
Damit will May ihre Brexit-Pläne durch das Volk legitimieren lassen. Denn ins Amt kam sie, nachdem ihre konservative Partei sie nach dem Rücktritt Camerons gewählt hatte – ohne Parlamentswahl.
Die Chancen für einen Erdrutschsieg stehen so gut wie nie: In Umfragen liegen die Konservativen bei 44 Prozent, die Oppositionspartei Labour bei 23, die Liberaldemokraten bei 12 Prozent. Und die rechtspopulistische Ukip stellt inzwischen keine ernsthafte Bedrohung für die Konservativen mehr dar.
Ein wesentlicher Grund für die Stärke von Mays Partei ist die Schwäche ihres Gegners: Die Oppositionspartei Labour befindet sich seit dem Brexit und unter dem für viele Briten unwählbaren Vorsitzenden Jeremy Corbyn (67) in einer historischen Krise.
Sinnbildlich für die Labour-Baisse ist, dass sich die Parteiführung darauf festgelegt hat, Mays Neuwahlpläne zu unterstützen. Und das, obwohl sie und ihr Chef Corbyn mit einer haushohen Niederlage rechnen müssen.
«Eine riesige Fehlkalkulation»
Trotz der guten Vorzeichen ist Mays Vorstoss nicht ohne Risiko. Denn: Die Wahlen könnten die Lager des EU-Referendums noch einmal neu formieren, warnen einige Kommentatoren in britischen Medien.
Sollte das Votum eines über den Brexit werden, sind die Vorteile zugunsten der Konservativen weit weniger klar: 52 Prozent stimmten im vergangenen Juni für den Austritt aus der EU – 48 dagegen. An diesen Zahlen hat sich im Laufe der vergangenen Monate kaum etwas verändert.
Somit ist programmiert, dass ein Teil der Opposition Wahlkampf gegen einen «harten» Brexit machen wird. Tim Farron (46), der Vorsitzende der Liberaldemokraten, bezeichnete die Neuwahl als «Chance für alle, die Britannien im Binnenmarkt halten wollen». Nicola Sturgeon (46), die schottische Ministerpräsidentin, sprach gar von einer «riesigen Fehlkalkulation» der Premierministerin.
May lässt TV-Duelle sausen
May gibt sich derweil siegessicher. So kündigte ein Sprecher der Konservativen heute an, die Premierministerin werde im Zuge der angesetzten Neuwahl auf sämtliche Fernsehduelle mit der Opposition verzichten – ein Bruch mit britischer Wahlkampf-Tradition.
Es bestehe kein öffentliches Interesse daran, dass May Corbyn entgegentrete, sagte der Sprecher. Die Positionen seien auch so klar. Wenn sich die Konservativen da mal nicht verpokern.