Es war im vergangenen Jahr. Ich las wieder einmal einen Artikel über den Krieg im Südsudan. Da stand, dass schon über eine Million Menschen nach Uganda geflohen sind. Fast alles Frauen und Kinder. Ich schrieb ein paar Leute an für Kontakte. Mailte hin und her. Bekam Kontakt zu einer lokalen Radiostation und entschied, nach Uganda zu reisen.
Und glauben Sie mir, wenn man sich mal entscheidet, dann geht das ziemlich schnell vom letzten Café crème am Flughafen, bis Sie in einem Flüchtlingscamp auf einem schmalen Holzbänkchen neben Martha (60) sitzen. Und Martha ist ziemlich wütend. Die Nahrungsmittellieferungen sind diesen Monat verspätet, streunende Ziegen fressen das mühselig angebaute Gemüse, und in der Krankenstation gibt es nur Para-cetamol. Martha, diese dürre Frau in roten Sandalen, sagt: «Paracetamol! Egal ob du Malaria hast oder eine Augenentzündung.» Sie lacht, und ich lache auch. Obwohl wir beide wissen, dass es nicht lustig ist.
Die Nummer macht sie einzigartig
Martha ist die Erste, die mir erzählt, was mir noch so viele erzählen werden: Dass sie im Südsudan nicht mehr schlafen konnten, wegen der Angst. Dass die Soldaten nachts kommen. Plötzlich im Haus stehen. Auch in dem von Martha. Sie hielten ihr die Pistole an den Kopf, wollten Geld. Mutter, nannten die Soldaten sie. «Mutter, wir brauchen Geld.» Sie schlossen die Türe hinter sich, als sie wieder gingen, erzählt mir Martha. Ich gebe es auf, mitzuschreiben, wie viele Angehörige sie im Krieg verloren hat. Ihr Haus ist aus UNHCR-Blachen. Und Martha besteht darauf, dass ich die Nummer in mein Notizbuch schreibe, die an ihr Haus gesprayt wurde – 380. Erst später glaube ich zu begreifen: Die Nummer ist das Einzige, was sie von den anderen Tausenden von Flüchtlingen in Blachen-Häusern um sie herum unterscheidet. Es macht sie einzigartig, identifizierbar. Hier draussen im Nirgendwo von Norduganda.
Eine andere Frau kommt zu mir, fragt mich, ob ich mit ihr komme. Mary (19) heisst sie. Vor ihrem Blachen-Haus liegt ein nacktes Baby auf einer Wolldecke. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der Bub heisst. Er schreit, ich geh zu ihm hin, berühre seinen Arm, er ist schwitzig und weich. Mary spricht so leise, dass ich immer wieder nachfragen muss. Sie ist mit ihrem Mann geflüchtet, unterwegs fielen sie Rebellen in die Hände. Die töteten ihren Mann, Mary bettelte um ihr Leben. Die Rebellen liessen sie laufen. Ich rechne im Kopf zurück – den Fluchtmonat, das Alter des Babys, das heutige Datum. Es ist in dem Monat entstanden, als Marys Mann getötet wurde. Ich flehe innerlich, dass es ihr Kind ist, das Kind von Mary und ihrem toten Mann.
Margret ist fast ein bisschen euphorisch, dass es hier Essen gibt.
Abends sitze ich im Restaurant Garden View in der kleinen Stadt Arua, in der ich wohne, zusammen mit einem ugandischen Radiojournalisten über einem Teller Bohnen. Er erzählt vom Gründungsmythos seines Stamms, eine abgefahrene Geschichte. Dagegen ist unser Wilhelm Tell, nun ja – realistisch. Später reden wir über die Flüchtlinge. Er war schon einige Male in den Camps. Nun will er nicht mehr hin. Obwohl er es wichtig findet, dass seine Kollegen gehen. Er sagt mir, dass es ihn immer so traurig mache. Er wolle nicht traurig sein.
Es gibt viele verschiedene Flüchtlingslager. Die Kinder erzählen mir überall das Gleiche. Sie sind so glücklich, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Auch Margret (29) freut sich darüber. Ich treffe sie im Erstaufnahmezentrum. Sie ist mit ihren vier Kindern zehn Tage zu Fuss zur Grenze gelaufen. Weggelaufen vor dem Krieg. Ihr Mann ist noch dort mit der Schwiegermutter. Sie kann nicht so weit zu Fuss gehen. Margret ist fast ein bisschen euphorisch, dass es hier Essen gibt und Wasser. Sie erwähnt mehrere Male, dass es Wasser gibt. Sie erzählt, da, wo sie herkomme, da seien die Soldaten tief in die Dörfer vorgedrungen. «Wenn sie dich kriegen, töten sie dich», sagt sie. Auch die Kinder. Sie benutzen dafür nicht mal eine Kugel, bloss die Machete. Diese Frau mit der gebleichten Strähne in ihrer Kurzhaarfrisur hört nicht mehr auf zu sprechen. Sie habe eine alte Frau gesehen, die Khassava erntete auf dem Feld. Da sind drei Soldaten gekommen. Sie vergewaltigten die Frau. Einer nach dem anderen. Bis sie tot war. Ich frage sie: «Warum? Warum töten sie euch?» Und sie sagt: «Ich weiss es nicht.» Zum Schluss sagt sie mir: «Wir im Südsudan, wir haben keine Stimme. Wenn du sprichst, töten sie dich. wenn du wegläufst, töten sie dich. Du musst dich einfach verstecken und hoffen, dass sie dich nicht finden.»
Schau hin! Wir leiden.
Abends sitze ich wieder im Garden View. Ich trinke ein Bier. Und gleich noch zwei. Ich rauche, obwohl ich aufgehört habe. Ein Flüchtling kommt mir in den Sinn. Er war betrunken. Er schrie mich an. Dass ich hierher komme und mit den Leuten rede und dann wieder gehe. Aber dass er und all die anderen hier bleiben und auf den Frieden warten müssten. Immer wieder sagt er: Schau hin! Wir leiden. Ich hatte heiss und Durst und keine Nerven, und ja, ich verurteilte ihn – einen Flüchtling, betrunken. Und dann schau ich mich an, mein Bier und frage mich plötzlich, mit welchem Recht? Er trinkt aus demselben Grund wie ich gerade. Er will sich betäuben, vergessen. Er hat es wohl nötiger.
Es sind so viele Begegnungen. Jane (36) und ihre Kinder. Ich kann nicht aufhören, sie anzusehen. Irgendetwas stimmt nicht. Und dann merke ich, dass es die Augen sind. Sie sind so leer irgendwie. Ich frage mich, was diese Kinderaugen wohl schon gesehen haben. Jane lacht, während sie Schreckliches erzählt, und irgendwann lacht Jane nicht mehr, Tränen laufen nun über ihre Wangen. Und als ich Jane frage, was sie sich wünscht, sagt sie: «Frieden.»
Wenn ich mich nach einem solchen Gespräch verabschiede und mich hilflos und nutzlos fühle, gibt es nur etwas, das ich diesen Menschen geben kann: das Versprechen, dass ich alles aufschreiben werde. Und den Menschen in meinem Land von ihnen erzählen werde. Es ist, was Journalisten tun.
Er wartet darauf, dass sein Leben endlich weitergeht.
Martha, mit der ich auf dem schmalen Holzbänkchen sass, versprach ich noch etwas anderes. Ich versprach ihr, dass wir sie und all die anderen hier nicht vergessen und dass es uns nicht egal ist, was sie erleben mussten und müssen. Aber wissen Sie was? Als ich das sagte, fühlte ich mich ein bisschen wie eine Lügnerin.
Darum dieser Brief.
Ein paar Tage später. Ich sitze im Newsroom der Radiostation. Ich höre mir mit Kopfhörern die Audiofiles vom gestrigen Tag an, meine Wimperntusche ist verschmiert. Nicht nur wegen der Hitze. Ich höre mir eine Sequenz immer wieder an. Sie ist aus dem Camp. Ich habe dort Thomas (27) getroffen. Ich sass mit ihm im Schatten und redete. Aber irgendwie realisiere ich erst jetzt, was er mir sagte. Thomas war ein Student, bevor der Krieg kam. Nun ist er seit einem halben Jahr hier, wartet auf Frieden. Wartet darauf, dass sein Leben endlich weitergeht. Er isst wie alle anderen jeden Tag Bohnen und Posho (ein klebriger Maisbrei, geschmacklos, aber mit vielen Kalorien). Kürzlich hat Thomas Okkra angebaut. Was mühsam ist, weil die Erde schlecht und das Wasser knapp ist. Thomas hat es geschafft. Er erntete, verkaufte alles für umgerechnet einen Franken. Ich höre meine eigene Stimme auf dem Band, die fragt, weshalb er es nicht selber ass. Er antwortet, dass er Seife kaufte mit dem Geld. Denn es sei ein Problem, er habe nicht genug Seife, um sich und seine Kleider sauber zu halten. Ich sitze in diesem Newsroom und heule – Seife!
«Weil ich sie schön finde.»
Ich habe Ihnen nichts über den Grund des Kriegs im Südsudan erzählt. Aber wissen Sie, die Leute, die ich getroffen habe, verstehen auch nicht, warum getötet wird. Macht Krieg jemals Sinn? Zum Schluss möchte ich Ihnen noch von Irene (19) erzählen, die vor der Hütte, in der sie mit ihren Schwestern wohnt, Blumen angepflanzt hat. Es sind kleine Sträuche mit violetten Blümchen dran, mitten in diesem Elend. Sie hat die Samen eingepackt, als sie flüchtete. Sie hat sie zusammen mit ihren Schulbüchern auf dem Kopf in einer Blechkiste durch den Busch getragen, tagelang. Nun trägt sie jeden Tag das Wasser von der Pumpstation hierher und giesst ihre Blumen. Und ich frage: «Blumen? Die kann man doch nicht essen.» Und Irene sagt: «Weil ich sie schön finde.» Bei mir zu Hause auf dem Küchentisch stehen auch immer Blumen. Weil ich sie wie Irene einfach schön finde. Aber mich würde niemand so saudumm fragen, warum ich Blumen statt Spaghetti gekauft habe. Nur noch was. Verabschiede ich mich von Menschen in Uganda und erzähle, dass ich bald heimreise, dann sagen mir alle: Komm gesund zurück nach Hause und bitte vergiss nicht, den Menschen in deinem Land liebe Grüsse auszurichten von uns.
Na dann: Liebe Grüsse aus Uganda – von mir auch.