Ein Volltreffer: Der russische Panzer fängt sofort Feuer. Auch die zweite Ladung der Ukrainer sitzt, wieder bleibt ein Fahrzeug liegen. Nur einer von zwölf Panzern der russischen Kolonne auf einer Kiewer Ausfallstrasse schiesst zurück, der Rest flüchtet über die Äcker. Mehrere Soldaten springen aus dem rollenden Sarg und rennen um ihr Leben.
Fast die gleiche Szene bei Kozacha Lopan, nördlich von Charkiw. Die Panzerabwehrrakete trifft einen russischen Truppentransporter in voller Fahrt. Diesmal filmen die Ukrainer sogar vom Boden aus, was dem Geschehen irritierende Ähnlichkeiten mit einem Videospiel gibt. Für die russischen Soldaten ist es tödlicher Ernst.
Das Internet ist voll von Videos ukrainischer Hinterhalte. Die Angegriffenen setzen der Grossmacht sichtlich zu. Kaum jemand hat etwas davon vorausgesehen, weder die Schwäche Putins noch Mut und Taktik der ukrainischen Streitkräfte.
Laut US-Schätzungen aus dieser Woche starben mehr als 7000 russische Soldaten, 14'000 bis 21'000 wurden verwundet. Die Amerikaner halten mittlerweile sogar einen Sieg der Angegriffenen für möglich.
Stimmung im Keller
Die Moral der russischen Truppen ist desaströs. Der ukrainische Geheimdienst veröffentlichte am Freitag abgehörte Gespräche russischer Soldaten und Offiziere, die belegen sollen, dass sich mittlerweile viele von ihnen selber Schusswunden beibringen, um nach Hause geschickt zu werden.
Wie konnte es so weit kommen, wie haben Präsident Wolodimir Selenski und seine Leute das geschafft?
Der Erfolg der einen hat mit der Inkompetenz der anderen zu tun. «Noch immer sind die russischen Streitkräfte unfähig, die Lufthoheit zu erringen», sagt Mauro Mantovani von der Militärakademie der ETH. «Teilweise spektakuläre Abschüsse» seien die Folge. Und die russischen Truppen hätten ihre Linien im Vormarsch überdehnt, was Nachschubprobleme vergrössert: «Dies erleichtert ukrainische Angriffe aus dem Hinterhalt.»
Im Informationskrieg haben die Ukrainer seit der ersten Stunde die Nase vorn. «Die Russen sind unfähig, die ukrainische Propaganda zu kontern oder zumindest zu unterbinden», so der Militärstratege.
Dies alles aber ist für viele Beobachter nicht der Hauptgrund für die Erfolge von Putins Opfern. «Die Ukrainer haben als Verteidiger eine weitaus bessere Kampfmoral», erklärt Mantovani – und mit ihren bewaffneten Freiwilligen auch eine grössere Anzahl Kämpfer.
Hilfe von aussen kommt hinzu. US-Strategen und -Ausbildner modernisierten die Truppe, dank westlicher Aufklärungsdaten haben die Ukrainer oft ein besseres Bild der Lage, dazu liefern Nato-Staaten grosse Mengen an Flugabwehr- und Panzerabwehrwaffen.
Häuserkampf
Taktischer Vorteil der Ukrainer: Sie ziehen sich in die Städte zurück, für deren Eroberung fünfmal mehr Truppen benötigt werden als zu deren Verteidigung. Allein in Kiew sollen 30'000 Mann bereitstehen. Moskau bräuchte also rechnerisch 150'000 Soldaten, um die Hauptstadt einzunehmen – so viele, wie Russland bisher insgesamt im Krieg einsetzt.
Zum anderen setzen die Verteidiger ihre Angriffe in kleinen Einheiten fort. «Die Zeit arbeitet für die Ukrainer», sagt Mantovani, «darum führen sie einen hinhaltenden Krieg.» Russland drohe der Staatsbankrott, seine Armee riskiere noch grössere Verluste: «Beides schwächt die Moral der Truppe und stärkt die innerrussische Opposition gegen den Krieg.»
Putin absolvierte derweil am Freitag einen Propaganda-Auftritt im Moskauer Luschniki-Stadion und heizte vor Zehntausenden die Kriegsstimmung weiter an. Zuvor hatte er in einer Rede, in der viel gekränkter Stolz mitschwang, Andersdenke als «Abschaum und Verräter» beschimpft.
Einmal mehr wird deutlich, dass der Präsident seinen Angriffskrieg in Russland als Erfolg verkaufen muss. Aber welche möglichen Szenarien bleiben ihm?
«Eine Besetzung der ganzen Ukraine ist völlig jenseits der russischen Möglichkeiten», sagt Stratege Mantovani.
Putin bleibt wohl an der Macht
Einen Sturz Putins wiederum hält Ulrich Schmid, Slawistik-Professor an der Universität St. Gallen, derzeit für «unwahrscheinlich». Die offene Repression in Russland funktioniere noch zu gut.
Ein anderes Szenario könnte sein, dass Russland Teile der Ukraine dauerhaft besetzt, etwa um die Separatistengebiete Donezk und Luhansk herum. «Dort gäbe es aber immer wiederkehrende Partisanenangriffe», glaubt Schmid – es sei denn, Putin zieht nach der Besetzung der Ostukraine seine Truppen aus den anderen Gebieten ab.
Eine Eskalation wie im Tschetschenien-Krieg 1996 bis 2009, als Putin die Stadt Grosny dem Erdboden gleichmachte, hält Russland-Kenner Schmid im Fall Kiews für «sehr unwahrscheinlich». Putin müsse seinem gebetsmühlenhaft wiederholten Narrativ folgen, die «Spezialoperationen» des Kremls richteten sich nicht gegen zivile Ziele, so Schmid. Im Übrigen sei Kiew aus Putins Sicht «die Mutter aller russischen Städte, die Mutter der russischen Zivilisation».
Andererseits werde ein Waffenstillstand, der die Neutralisierung der Ukraine und Anerkennung der Separatistengebiete vorsehe, von vielen Ukrainern als «Verrat und Kapitulation» wahrgenommen, so Schmid.
Ein neues Afghanistan
Die Ukrainer ihrerseits forderten den Rückzug der russischen Armee, die Anerkennung der eigenen Souveränität und die Freiheit, sich westlichen Organisationen wie der Nato anzuschliessen. «Darunter wird die Regierung Selenski kaum gehen können», meint Mauro Mantovani: «Und weil dies für die russische Seite inakzeptabel ist, wäre sogar eine Steigerung des Blutvergiessens zu befürchten.»
Zwar könne die ukrainische Armee die Invasoren nicht vertreiben, so Professor Schmid, sie allerdings immer wieder massiv schwächen: «Möglicherweise muss sich Russland auf ein Afghanistan vor der Haustür einstellen.»
Um einen lang anhaltenden Kleinkrieg zu vermeiden, muss es zu echten Friedensverhandlungen kommen. Damit Putin einen Weg aus seinem Dilemma findet, sollte er seine Fantasien von der Wiederherstellung eines grossrussischen Imperiums aufgeben und zu Kompromissen mit seinem Gegner bereit sein.
Damit sinnvoll verhandelt werden kann, muss aber auch Selenski Opfer bringen können – und etwa seine Vision einer Nato- wie auch der EU-Mitgliedschaft der Ukraine in die Waagschale werfen.