«Die Russen zerstören alles, ich muss zurück und werde kämpfen»
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Janiel war schon in Polen:«Die Russen zerstören alles, ich muss zurück und kämpfen»

Putin bombt schon den dritten Tag
Warum hilft niemand?

Die Ukrainerinnen und Ukrainer fühlen sich im Stich gelassen. Der Westen hadert, wie es weitergehen soll.
Publiziert: 27.02.2022 um 10:40 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2022 um 11:43 Uhr
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Eine Frau vor ihrem Wohnhaus in Kiew, das von einer russischen Rakete getroffen wurde.
Foto: keystone-sda.ch
Fabienne Kinzelmann

Am Donnerstag wachte die Welt in einer neuen Wirklichkeit auf. Wladimir Putin (69) ist in die Ukraine einmarschiert. Bis zuletzt hatten selbst die klügsten Köpfe gehofft, dass der russische Präsident rational genug ist, sich nicht auf diesen Wahnsinn einzulassen.

Doch Putin hat die Welt getäuscht. Der russische Präsident schert sich nicht um politische Spielregeln, Sanktionen, nicht mal mehr um sein Ansehen im eigenen Land. Er will die Ukraine unter seine Kontrolle bringen.

Von drei Seiten sind seine Truppen einmarschiert, am Samstag bombte er den dritten Tag in Folge, seine Soldaten kämpfen in Kiew und anderen Regionen. Grenznahe Gebiete hat er offenbar bereits eingenommen, darunter die strategisch wichtige Schlangeninsel, wo 13 Grenzschützer ihren leidenschaftlichen Widerstand («Russisches Kriegsschiff, fick dich!») mit dem Tod bezahlten. Selbst ein Atomkrieg ist nicht mehr ausgeschlossen – absichtlich oder durch einen Unfall.

Selenski: «Die Kämpfe gehen weiter»

Seit Beginn der Eskalation sind nach Angaben der ukrainischen Regierung mindestens 189 Zivilisten umgekommen und mehr als 1000 Menschen verletzt worden. Nach einer Schätzung der Vereinten Nationen befinden sich mehr als 100’000 Menschen aus der Ukraine (42 Millionen Einwohner) auf der Flucht, bis zu fünf Millionen könnten es werden.

Wer bleibt, kämpft. Eine Kapitulation werde es nicht geben, sagte Ukraines Präsident Wolodimir Selenski (44), der sich selbst Putins Ziel Nummer 1 sieht, am Samstag in einer Videobotschaft. «Die Kämpfe gehen weiter», sagt er, während er neben dem Haus mit den Chimären steht, einer von Kiews Sehenswürdigkeiten. Selbst Kritiker zollen dem Staatschef für seine Führungsstärke Respekt.

Das Verteidigungsministerium ruft zum Bau von Molotowcocktails auf und verteilt Waffen an kampfbereite Zivilisten. Kiews Bürgermeister Wladimir Klitschko (45) will seine Stadt verteidigen. Und ein CNN-Beitrag von Freitag zeigt selbst Selenskis Vorgänger Petro Poroschenko (56) bei Vorbereitungen für den offenen Kampf: «Wir stehen hier nicht für Brot oder Geld an, sondern für Waffen. (...) Extrem wichtig für uns ist: Dass wir uns nicht alleingelassen fühlen.»

Doch genau so fühlen sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer. Ihre Moral ist hoch, doch ihr Frust gewaltig. Sie fühlen sich vom Westen im Stich gelassen. Symbolisch dafür steht die Posse um die 5000 Schutzhelme, die Deutschland nach wochenlangen Verzögerungen erst am Freitag geliefert hat – Kiew hatte um mindestens 100'000 gebeten.

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Nato und USA schicken keine Soldaten

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) hilft, russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer aufzuhalten. Die USA und die Nato liefern zwar Waffen und Munition und teilen Aufklärungsdaten von Flugzeugen, die im östlichen Polen patrouillieren. Doch sie werden Stand jetzt keine Soldaten zur Unterstützung schicken. Die Nato-Richtlinien verbieten das, solange kein Bündnispartner selbst angegriffen wird.

«Die Nato kann wenig tun, was über das aktuelle Niveau hinausgeht», sagt der Sicherheitsforscher Niklas Masuhr (28) von der ETH Zürich zu SonntagsBlick. Auch die aktuell diskutierte Flugverbotszone etwa sei «kein magischer Schutzschild», da sie erfordern würde, den Luftraum offensiv frei zu halten – und russische Flugzeuge gegebenenfalls abzuschiessen. Eine militärische Eskalation mit unabsehbaren Folgen.

Doch auch nicht-militärisch hat der Westen noch nicht alle Optionen ausgeschöpft. Die USA und die EU haben umfangreiche Sanktionen beschlossen, die etwa auch Putin und seinen Aussenminister Sergei Lawrow (71) persönlich treffen. Zudem wurde Russland weitreichend von der internationalen Bühne verbannt, etwa aus dem Europarat geschmissen und selbst vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen.

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Das «Iran-Szenario» würde Russland vollständig isolieren

Doch einzelne Länder wie die Schweiz drücken sich vor echten Konsequenzen. Und nach wie vor fliesst das russische Gas nach Europa – und das Geld dafür in die Aufrüstung von Putins Armee. Russische Oligarchen können noch immer Ferien im demokratischen Europa geniessen und ihre Kinder auf westliche Schulen schicken. Und erst wenige Länder haben ihren Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt. «Ich fordere die Welt auf: vollständige Isolierung Russlands, Ausweisung von Botschaftern, Ölembargo, Ruinierung der Wirtschaft. Stoppt die russischen Kriegsverbrecher!», twitterte Ukraines Aussenminister Dmytro Kuleba (40), nachdem eine russische Rakete in der Nacht auf Samstag ein Wohnhaus in Kiew getroffen hatte.

Noch zögert der Westen beim «Iran-Szenario» für Russland. Dazu gehört auch der vollständige Ausschluss aus dem internationalen Bankensystem Swift, was Kollateralschäden für die eigene Wirtschaft bedeuten würde. Swift ist eine Art Kommunikationssystem für die Abwicklung von Transaktionen zwischen Banken.

Bei einem Ausschluss könnten Kredite, die an russische Akteure vergeben wurden, nicht mehr zurückgezahlt werden – und andersrum kein russisches Gas mehr bezahlt werden. Es bräuchte entsprechend Hilfspakete für ganze Länder wie für die einzelnen Energieverbraucher, um die finanziellen Folgen abzufedern. Zudem kann Russland im eigenen Land und mit China noch immer Transaktionen tätigen, da dort eigene Systeme entwickelt wurden.

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Deutschland will Russland nun doch von Swift ausschliessen

Mittlerweile zeichnet sich bei der «finanziellen Nuklearoption» allerdings eine Trendwende ab. Biden denke nun ernsthaft über die Massnahme nach, berichteten US-Medien unter Berufung auf regierungsnahe Quellen. Als letztes EU-Mitglied stieg auch Deutschland am Samstagabend von der Bremse.

Die Frage ist: Wie weit kann Putin noch gehen, bis der Westen tatsächlich die härtesten Keulen auspackt – oder könnte es am Ende auch so reichen, wenn sich die Wirkung der verhängten Strafen erst mal richtig entfaltet?

Putin hat sich mit Währungsreserven und Kryptowährung auf Wirtschaftsstrafen vorbereitet. Doch der Krieg ist teuer. Nach Einschätzungen von Expertinnen und Experten kommt er bislang weniger gut voran als vermutet. Die ukrainische Armee schlägt sich wacker, die russische Armee wirkt teilweise dilettantisch – selbst die Feldküche wurde offenbar teilweise vergessen.

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Wie geht es mit der Ukraine weiter?

Die ukrainische Regierung meldet Stand Samstag hohe russische Verluste. Darunter unter anderem 3500 Soldaten, die mutmasslich getötet, verwundet oder gefangen genommen sind – das wären zehnmal mehr als getötete Ukrainer.

Moskau streitet Verluste ab. Doch Putin spürt auch zu Hause kräftigen Gegenwind. Die Russinnen und Russen haben keine Lust auf einen langen und teuren Krieg. Landesweit sollen bereits mehr als 1000 bei den nicht erlaubten Anti-Kriegs-Protesten festgenommen worden sein. Auch Prominente stellen sich gegen den Staatschef.

Der Schaden ist für Russland schon jetzt beträchtlich. Selbst die bisherigen Putin-Versteher können die Lügen und die brutale Gewalt nicht mehr herunterspielen.

Innerhalb weniger Tage hat Putin die blau-gelbe Nationalflagge der Ukraine zum Symbol der Freiheit gemacht. Sie wehte als Zeichen der Solidarität neben dem Union Jack über der Downing Street 10, der Eiffelturm wurde blau-gelb erleuchtet, in Zürich das Opernhaus.

Wie es für die Ukraine weitergeht, ist unklar. Doch keiner von Putins Panzern kann diese starke Symbolik überrollen.

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