Präsident macht auf Medien-Beschützer
Hülya Emec (28) und Erdogans Doppelmoral

Der Fall Jamal Khashoggi zeigt die Doppelmoral des türkischen Präsidenten Erdogan. In der Türkei ist der Beruf des Journalisten gefährlich geworden. Zahlen zeigen: Reporter auf der ganzen Welt leben in Gefahr.
Publiziert: 02.11.2018 um 01:54 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2018 um 07:44 Uhr
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Die Journalistein Hülya Emec sucht Asyl in der Schweiz. In ihrer türkischen Heimat drohen ihr achteinhalb Jahre Haft.
Foto: Valeriano Di Domenico
Vinzenz Greiner (Text), Priska Wallimann (Grafik)

Verzweifelt presst er seine «besorgniserregende Erkenntnis» in einen Text für die «Washington Post». In vielen arabischen Ländern sässe die Mehrheit der Bürger falschen Staatsmärchen auf, ein befreundeter Autor zu Unrecht hinter Gittern, kritisiert der saudische Journalist. «Arabische Regierungen haben freie Hand gegeben, die Medien in zunehmendem Masse zum Schweigen zu bringen», prangert er an.

Der Text erscheint, da ist der Verfasser selbst schon zum Schweigen gebracht worden. Jamal Khashoggi wurde am 2. Oktober im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul erwürgt und zerstückelt. Ein paar Tage später wäre der Kritiker des saudischen Königshauses 60 Jahre alt geworden.

Schwierige Beziehungen zwischen Türkei und Saudi-Arabien

Recep Tayyip Erdogan (64) kündigte volle Aufklärung an, sprach von einem «geplanten Mord» an seinem «Freund» und davon, dass involvierte Personen gedeckt würden – eine klare Attacke gegen den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (33). Der türkische Staatschef forderte von den Saudis, Licht ins Dunkel des Mordes zu bringen.

«Das ist mehr als normale Doppelmoral», sagt Hülya Emec (28). Ihre wachen Augen schauen über ihre Kaffeetasse in einem Zürcher Café hinweg, unter ihrem Halstuch spitzelt ein Tattoo hervor.

Sie weiss: Die Türkei und Saudi-Arabien ringen um Macht im Mittleren und Nahen Osten. Die Beziehungen zwischen den Ländern ist angespannt: Erdogan unterstützt die Muslimbruderschaft, die die saudischen Monarchen zum Feind deklariert haben. Während sie Katar boykottieren, unterhält Ankara enge Beziehungen ins kleine Emirat. Was die Herrscher eint: Sie halten nichts von freien Medien.

«Viele Unschuldige gefoltert»

Vor einem Jahr, als Emec in der Stadt Diyarbakir im kurdischen Teil der Türkei als Journalistin arbeitete, hätte sie zu Erdogans jetzigem Verhalten rasch eine Überschrift für einen Text gefunden: «Was ist das für eine Diät, was ist das für ein eingelegter Kohl?» – ein türkisches Sprichwort, das sagt: Welch Widerspruch zwischen Handeln und Sagen!

Das Handeln von Erdogans Staatsapparat hat die türkisch-kurdische Journalistin ständig zu spüren bekommen. Als Praktikantin einer Presseagentur berichtete sie 2009 von einer regierungskritischen Demonstration. Die Polizei nahm sie fest und liess sie erst nach zwei Jahren wieder frei. «Viele Unschuldige sassen dort, wurden gefoltert, unter Druck gesetzt.» Um das zu ändern, entschied sie sich für den Journalismus – und damit für einen gefährlichen Job.

Die Türkei liegt im Pressefreiheits-Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) auf Rang 157 von 180. Damit ist es am Bosporus kaum besser um Medien bestellt als bei den Saudis (Platz 169). Seit 1992 wurden laut aktuellen Zahlen in der Türkei 25 Journalisten umgebracht (siehe zweiter Text). Seit dem Putschversuch 2016 schlossen Erdogans Beamte rund 150 Medien – darunter alle, für die Emec gearbeitet hatte. Über 100 Journalisten wurden seither inhaftiert.

Journalisten in saudischen und türkischen Kerkern.
Foto: Blick Grafik

Verurteilt wegen kritischer Berichte

Im letzten Jahr allein schmorten 73 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Beinahe wäre Emec Nummer 74 geworden. Sie berichtete über Menschenrechtsverletzungen und staatliche Gewalt – und wurde zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt, weil sie angeblich Terroristen unterstütze. Auch den deutschen Reporter Deniz Yücel (45) vorverurteilte Erdogan öffentlich als «Terroristen» und «Agenten» – Yücel sass ein Jahr ohne Anklageschrift in türkischer Haft.

Als das Urteil gegen Emec rechtskräftig wird, flieht sie über Georgien, Katar und Brasilien in die Schweiz. Nach 29 Tagen in der Transitzone am Zürcher Flughafen betritt sie im Februar Schweizer Boden.

Sie hat zwar noch Presseausweise, doch schreiben kann sie derzeit nicht mehr: Als Asylsuchende darf sie in der Schweiz nicht als Journalistin arbeiten. Emec will wieder zurück und in der Türkei «für Demokratie kämpfen». Wann? Vor zwei Monaten wurde sie wegen «Beleidigung des Türkentums» und von Polizisten zu einem weiteren Jahr Haft verurteilt. Emec hatte berichtet, wie Beamte mehrfach bei Hausdurchsuchungen eine Familie mit Waffen bedroht hatten. Wann also die Rückkehr? «Irgendwann.»

So gefährlich ist Journalismus

Seit 1992 wurden weltweit 1324 Journalisten bei oder wegen ihrer Arbeit getötet. Das zeigen aktuelle Zahlen vom Committee to Protect Journalists (CPJ, «Komitee zum Schutz von Journalisten»), welches weltweit gewaltsames Vorgehen gegen Journalisten dokumentiert. BLICK hat die Fälle anlässlich des heutigen internationalen Tages gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten analysiert.

Weltweit werden seit Beginn der Statistik 60 Journalisten vermisst. Inhaftiert sind derzeit mindestens 262 Journalisten. Mit 21 Getöteten hat die Agentur Reuters am meisten Tote zu beklagen. Sie schickt ihre Mitarbeiter auch in Kriegs- und Krisenregionen. 155 Journalisten wurden als freie Reporter getötet.

Der Irak ist am gefährlichsten

Das tödlichste Land für Journalisten ist der Irak, wo seit 1992 186 Journalisten wegen ihres Berufs getötet wurden. Darauf folgt Syrien mit 123, die Philippinen mit 80. Die meisten Opfer weltweit sind Einheimische.

Auch in Europa werden Reporter getötet – zuletzt im Februar 2018 der slowakische Ringier-Journalist Jan Kuciak.

Seit 1992 wurden weltweit 1324 Journalisten bei oder wegen ihrer Arbeit getötet. Das zeigen aktuelle Zahlen vom Committee to Protect Journalists (CPJ, «Komitee zum Schutz von Journalisten»), welches weltweit gewaltsames Vorgehen gegen Journalisten dokumentiert. BLICK hat die Fälle anlässlich des heutigen internationalen Tages gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten analysiert.

Weltweit werden seit Beginn der Statistik 60 Journalisten vermisst. Inhaftiert sind derzeit mindestens 262 Journalisten. Mit 21 Getöteten hat die Agentur Reuters am meisten Tote zu beklagen. Sie schickt ihre Mitarbeiter auch in Kriegs- und Krisenregionen. 155 Journalisten wurden als freie Reporter getötet.

Der Irak ist am gefährlichsten

Das tödlichste Land für Journalisten ist der Irak, wo seit 1992 186 Journalisten wegen ihres Berufs getötet wurden. Darauf folgt Syrien mit 123, die Philippinen mit 80. Die meisten Opfer weltweit sind Einheimische.

Auch in Europa werden Reporter getötet – zuletzt im Februar 2018 der slowakische Ringier-Journalist Jan Kuciak.

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