Zwei Qualitäten müsse ein Staatsmann haben, sagte Henry Kissinger (†100) vor ein paar Jahren in der Grabrede für einen Freund: Vision und Mut. Kissinger, in den 1970er-Jahren US-Aussenminister unter den Präsidenten Richard Nixon (1913–1994) und Gerald Ford (1913–2006), hatte beides.
Der einst als jüdischer Flüchtlingsjunge von Bayern nach Amerika migrierte Jahrhundertdiplomat, der am Mittwoch im Alter von 100 Jahren verstorben ist, hat ganz entscheidend zur Entspannung zwischen den sowjetischen und amerikanischen Grossmächten im Kalten Krieg beigetragen. Er hat die USA aber auch auf einen frühen Versöhnungskurs mit China gesteuert.
Kissinger erhielt für das Waffenstillstandsabkommen mit Nordvietnam 1973 den Friedensnobelpreis. Eine umstrittene Auszeichnung. Für manche Kritiker seiner Vietnam-Politik blieb der einstige Harvard-Professor ein «Kriegsverbrecher». Ein Rückblick in 7 Szenen.
1. Gestatten: Heinz Alfred Kissinger (*1923)
Henry Kissinger kam 1923 als Heinz Alfred Kissinger in der bayrischen Stadt Fürth zur Welt und besuchte dort mit seinem Bruder die israelitische Realschule. 1938 ergriff seine Familie die Flucht vor den Nazis und setzte mit dem Schiff «Île-de-France» nach New York über. 1945 kehrte der inzwischen eingebürgerte Henry nach Deutschland zurück – als kämpfender Soldat aufseiten der Amerikaner. Am 10. April gehörte er zu jenen Soldaten, die das KZ-Aussenlager Hannover-Ahlem befreiten. Was ihm aus seiner bayrischen Jugend geblieben ist: der deutsche Akzent, den er sich bis zuletzt hörbar bewahrte.
2. Der erste eingebürgerte Aussenminister
Kissinger galt als einer der führenden politischen Denker des 20. Jahrhunderts. Der Harvard-Professor beriet früh führende Politiker in Amerika und wurde schliesslich 1973 vom republikanischen Präsidenten Richard Nixon zum Aussenminister berufen. Kissinger ist der erste und bislang einzige eingebürgerte Amerikaner, der als oberster Diplomat des Landes fungieren durfte. Er behielt sein Amt auch unter Nixons Nachfolger Gerald Ford.
3. Hände schütteln, abrüsten!
Als Aussenminister und später als Berater setzte sich Kissinger konsequent für den Dialog mit der Sowjetunion ein. Den sowjetischen Führer Leonid Breschnew (1906–1982) traf er mehrmals. Die Stabilität zwischen den beiden Grossmächten war für Kissinger das zentrale, durch alle Widrigkeiten hindurch zu schützende Element der Weltpolitik. Nicht zuletzt deshalb setzte er sich für eine rasche Beilegung des Jom-Kippur-Krieges im Nahen Osten 1973 ein. Kissinger befürchtete, der Krieg könnte sich rasch zu einem Stellvertreter-Konflikt zwischen Amerika und der UdSSR auswachsen – was er mit dem Zusammenbruch der Weltordnung gleichgesetzt hätte. Seine Annäherungsversuche fruchteten: Unter seiner Ägide unterzeichneten Amerika und die Sowjetunion mehrere Abrüstungsverträge.
4. Putins trauriges Telegramm
Kissinger setzte auch gegenüber Wladimir Putin (71) auf Entspannungs-Politik. Die beiden trafen sich regelmässig, teils auch auf Putins Datscha, aber «immer nur geschäftlich», wie Kissinger in einem seiner letzten Interviews mit der «Zeit» betonte. Putin hatte offenbar auch versucht, Kissinger im Ukraine-Krieg als Vermittler einzubinden, worauf der verstorbene Top-Diplomat auf Anraten der US-Regierung aber nicht eingetreten ist. Putin blieb ihm trotzdem freundschaftlich gesinnt. Kissingers Ehefrau schickte er am Donnerstag ein Kondolenz-Schreiben. Die Welt habe «einen weisen und weitsichtigen Staatsmann verloren», schrieb der russische Machthaber.
5. Kriegsverbrechen in Kambodscha?
Wer es in der Weltpolitik nach oben schafft, zieht automatisch viel Zorn und Hass auf sich. Das passierte auch Kissinger. Seine Kritiker werfen ihm vor, zwischen 1969 und 1973 für die Bombardierung kambodschanischer Zivilisten verantwortlich zu sein. Die geheime Bombenkampagne, die im Schatten des Vietnamkriegs passierte, hat den Bürgerkrieg im Land und den Aufstieg des Terrorregimes der Roten Khmer (1975 bis 1979) mitverursacht. Kritisiert wurde Kissinger auch für seine Verwicklung in den US-gestützten Sturz der sozialistischen Regierung von Salvador Allende (1908–1973) in Chile.
6. Ehrenmitglied im bayrischen 2.-Liga-Club
Seiner Heimatstadt Fürth blieb Kissinger bis zuletzt treu verbunden. Im Sommer nahm er persönlich an einer Feier zu seinen Ehren in seiner bayrischen Heimat Teil. Und: Henry Kissinger, der Ex-Aussenminister, blieb bis zuletzt Ehrenmitglied im Fussballklub SpVgg Greuther Fürth (2. Bundesliga).
7. Nancy überragte den fast alles Überragenden
Mao Zedong (1893–1976), Chinas Kommunistenführer, erstarrte beim Anblick von Kissingers Ehefrau Nancy einst regelrecht. Die heute 89-jährige New Yorkerin hatte einst bei Kissinger in Harvard studiert und war 49 Jahre lang mit ihm verheiratet. Nancy überragte ihren beinahe alles überragenden Ehemann um fast einen Kopf.