Am Mittwochabend fand in der Universität Sorbonne in Paris die nationale Gedenkfeier für den Geschichtslehrer Samuel Paty statt. Er hatte seinen Schülern Mohammed-Karikaturen gezeigt, um zu erklären, dass in Frankreich das Recht auf Gotteslästerung gilt. Am vorigen Freitag schnitt ihm deshalb ein Terrorist die Kehle durch. Ein Attentat erschüttert Frankreich. Wieder einmal.
SonntagsBlick:Seit 2015 sind in Frankreich 259 Menschen durch islamistischen Terror gestorben. Warum trifft es so oft Frankreich?
Gilbert Casasus: Die Islamisten verachten die Werte «Liberté, Égalité et Fraternité» der Republik. Zudem gilt in Frankreich das Prinzip des Laizismus, der strikten Trennung von Religion und Staat. Das bedeutet, die Religion ist reine Privatsache. Frankreich ist zudem das Land der Menschenrechte – von Mann und Frau – und es beherbergt die grösste muslimische Gemeinde Europas. Die Islamisten sagen sich: Wenn es irgendwo gelingt, Muslime und Nichtmuslime gegeneinander aufzubringen, dann hier.
Für viele brachte die Ermordung des Lehrers das Fass endgültig zum Überlaufen. Warum?
Weil es sich gegen die Institution Schule an sich richtete. Gegen den Ort, der im französischen Staatsverständnis für die demokratische Integration von Menschen jeder Herkunft und Religion sorgt. Die Schule ist in Frankreich – viel mehr als in der Schweiz, weil sie landesweit einheitlich ist – das Fundament der Gesellschaft und der Kultur- und Wissensvermittlung. Jetzt ist ausgerechnet die Schule zur Kampfzone geworden.
Erst kürzlich hatte Präsident Emmanuel Macron seine neue Strategie gegen den radikalen Islamismus vorgestellt. Zu spät?
Nach mehr als drei Jahren im Amt hat er sich damit Zeit gelassen. Gut ist, dass er das Problem klar benannt hat: Es geht um den Kampf gegen den radikalen Islamismus. Es gibt verlorene Territorien der Republik, wo die französischen Werte nicht mehr respektiert werden, Cafés, die nur Männer betreten dürfen. Das Land hatte lange Hemmungen, offen darüber zu sprechen. Das muss sich ändern. Alles andere spielt dem Rassemblement National (ehemals Front National) in die Hände. Und den Fundamentalisten.
Warum den Fundamentalisten?
Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als dass Marine Le Pen 2022 zur Präsidentin gewählt wird. Denn das würde die Gesellschaft endgültig spalten.
Sie sind sicherlich ein Anhänger des Begriffs «Islamo-gauchisme»...
Eher des Begriffs «Islamofaschismus». Wahr ist aber die von Nachsicht geprägte Beziehung zwischen Linksaussenpolitikern wie Jean-Luc Mélenchon und dem Islamismus. Die französische Linke hat die Problematik zum Teil verharmlost. Wohl aus einer Art Schamgefühl wegen der Kolonialgeschichte Frankreichs, und weil sie fremdenfeindlichen Parteien nicht Munition liefern wollte. Dabei ist der Laizismus ein Grundstein der Linken, also derjenige Wert, der von den Islamisten mit Füssen getreten wird. Dass seit Jahren viele Ex-Kommunisten Le Pen wählen, überrascht mich kaum.
Seit den Anschlägen gibt es überall Taschenkontrollen, patrouillierende und bewaffnete Soldaten... Was macht das mit den Franzosen?
Sie haben sich daran gewöhnt, das ist das Schlimme und ein Teilerfolg der Fundamentalisten. Aber ich muss eingestehen: Je nach Ortschaft bin ich auch froh, wenn jemand da ist, der im Zweifelsfalle eingreifen könnte. Seit den Attentaten haben sich Spannungen und Spaltungen in der Gesellschaft verschärft. Und die jüdische Gemeinde fühlt sich stärker bedroht.
Die Mehrheit der Überlebenden des Attentats im jüdischen Supermarkt wohnt inzwischen in Israel...
Der Antisemitismus in Frankreich treibt seit Jahren Juden in den Exodus. Wichtige Persönlichkeiten wie die verstorbene Simone Veil oder Robert Badinter werden zwar geehrt, aber es tauchen vermehrt alte Denkmuster wieder auf. Ich bin mehrfach Zeuge von antisemitistischen Äusserungen geworden.
In Paris läuft aktuell der Prozess des «Charlie Hebdo»-Attentats von 2015. Wie wird dieser wahrgenommen?
Da es um die Hintermänner des Attentats geht, hatte sich die breite Bevölkerung zunächst nur mässig dafür interessiert. Aber mit der Tötung von Samuel Paty bekommt der Prozess eine neue Dimension. Es wird klar: Die Gefahr existiert noch immer.
Die Satirezeitschrift veröffentlichte die umstrittenen Karikaturen zum Prozessbeginn erneut ...
...und die Redaktion zeigt damit: Unsere Freiheit nehmt ihr uns nicht weg! Ein schönes Symbol.