In der britischen Politik herrscht das totale Chaos. Wie und wann der vom Volk beschlossene Brexit vollzogen wird, weiss im Moment niemand. Abgestimmt wird mal so, mal so. Weil Premierministerin Theresa May (62) mit ihrem Austrittsvertrag nicht durchkommt, wollte sie am Mittwoch das Unterhaus sogar ein drittes Mal darüber befinden lassen, um vielleicht doch noch eine Mehrheit zu finden.
Unterhaussprecher John Bercow (56) hat ihr nun aber einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er verweigert die Abstimmung am Mittwoch, wenn May wieder den genau gleichen Vertrag ohne Änderung vorlegen sollte.
Kurz vor dem geplanten Brexit-Termin vom 29. März hat London zudem in Brüssel eine Fristverlängerung beantragt, über die der Europäische Rat am Donnerstag befindet. Bei einem Nein käme es in einer Woche zu einem harten Brexit mit wohl chaotischen Folgen.
Warum schaffen es die britischen Politiker aus psychologischer Sicht nicht, den Volksbeschluss vom 23. Juni 2016 umzusetzen und den EU-Austritt durchzuziehen? BLICK bat den deutschen Politikpsychologen Thomas Kliche (62) von der Hochschule Magdeburg-Stendal, den angeschlagenen Patienten Grossbritannien unter die Lupe zu nehmen.
Die Diagnose:
Für Thomas Kliche liegt das Problem in der «Mischung aus ernüchterter Bestürzung, Ratlosigkeit und Restbeständen von imperialem Grössenwahn». Daraus entstehe ein Bilderbuch-Beispiel für eine «interessengeleitete Negativ-Blockade».
Kliche: «Die Akteure haben unvereinbare Positionen und ein verdecktes Interesse daran, dass eine Lösung scheitert. Sie fallen auf kurzsichtige Selbstsucht und taktischen Egoismus zurück: Sie wollen sich an der Macht halten, Einfluss gewinnen oder den Schwarzen Peter weiterschieben. So entsteht ein wirres Geflecht wechselnder Winkelzüge.»
Die Ursache:
Bei den grossen Parteien, den Tories und der Labour, herrscht grosse Angst vor Neuwahlen. Grund: Sie haben sich blamiert. «Sie waren nicht einmal in der Lage, die Aufgaben, die auf das Land zukommen, zu begreifen und vorzubereiten», sagt Kliche. Mit diesen Aufgaben meint er etwa, Schottland im Staatsverbund zu halten, die Wirtschaft vor der Rezession zu retten, das Rechtssystem neu zu organisieren und Dutzende von Handelsverträgen weltweit aus einer Position der Schwäche heraus nachzuverhandeln.
Aber auch kleine Gruppierungen streuen den Brexitverhandlungen Sand ins Getriebe. Kliche: «Es ist eine kleine Gruppe von ewiggestrigen Fanatikern, die die Annäherung in Irland umkehren und ihre Macht in der Regierung demonstrieren wollen, um ihre Existenzberechtigung als Kleinstpartei beweisen zu können.» Für den Politikpsychologen ist klar: «Die gesamte politische Klasse hat das Land in eine gefährliche Sackgasse gesteuert und bekommt nun Angst vor den Folgen.»
Die Behandlung:
Um den Teufelskreis verlassen zu können, empfiehlt der Politikpsychologe den Briten eine «Bedenkzeit zur ernsthaften Beratung und durchdachten Weiterentwicklung». Kliche: «Sie sollten den Austritt mindestens zwei Jahre aufschieben. In der Zeit sollten die Parteien langfristige Entwürfe für Aussenpolitik und Gesellschaft ausarbeiten, sodass die Wählerinnen und Wähler entscheiden können, wie sie in 20 Jahren leben wollen, und als Grundlage dafür mehr haben als Bauchgefühle der Ablehnung.»
Nach dieser Frist kommt für Kliche nur eines in Frage: «Es braucht noch einmal eine Abstimmung über den Brexit und ein Jahr später Neuwahlen, damit die Parteien die Entscheidung in Programme umsetzen können.»
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.
BLICK zeigt die wichtigsten Stationen des chaotischen Prozesses seit dem Austrittsvotum der Briten auf.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.
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