BLICK: Herr Garritzmann, Umfragen zeigen, dass Martin Schulz bei den Wahlen am 24. September Angela Merkel vom Thron stossen könnte. Glauben Sie an dieses Szenario, können Sie sich einen Kanzlerwechsel vorstellen?
Julian Garritzmann*: Definitiv. Ich könnte mir zwar vorstellen, dass der momentane Schulz-Hype über die nächsten Monate wieder etwas abflaut und CDU/CSU die stärkste Fraktion wird. Aber am Ende könnte es für Rot-Rot-Grün reichen.
Wie gross sind die Chancen von Martin Schulz?
Anders als Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier hat Schulz realistische Chancen auf das Kanzleramt. Und selbst wenn es für einen Kanzler Schulz nicht reicht, wird die SPD sicherlich einige Prozentpunkte zulegen und das als Sieg verbuchen. Schulz könnte somit länger als Parteivorsitzender und vielleicht sogar als Kanzler erfolgreich sein.
Sind die Deutschen Merkel-müde?
Viele ziehen momentan Parallelen zur langen Kanzlerschaft Helmut Kohls und argumentieren, Schulz könnte – wie damals Gerhard Schröder – ausnutzen, dass es nun schon sehr lange keinen Wechsel mehr im Kanzleramt gab. Ich sehe das etwas anders. Grosse Teile von Merkels Wählerschaft sind immer noch sehr zufrieden mit ihrem Kurs und ihrem ruhigen Politstil. Andere haben sich abgewandt, aber nicht, weil sie Merkel-müde, sondern weil sie mit ihrer Flüchtlingspolitik nicht einverstanden sind. Wenn es zum Wechsel kommt, dann also weniger durch Merkel-Müdigkeit als durch konkrete Unzufriedenheit mit ihrer Politik.
Wie gross ist in Deutschland der Wunsch nach einer Veränderung?
Ich denke, das unterscheidet sich sehr stark zwischen Wählergruppen. Einige Gruppen, besonders Menschen mit sozialen oder wirtschaftlichen Abstiegsängsten, fühlen sich zurückgelassen und bedroht durch zunehmende Internationalisierung. Sie wünschen sich die «gute alte Welt» zurück und unterstützen die Rechtspopulisten. Eine Mehrheit dagegen begrüsst die Möglichkeiten der Globalisierung und ist auch grundsätzlich mit Merkels Aussen- und Flüchtlingspolitik zufrieden. Auch in dieser Gruppe gibt es aber Veränderungswünsche, zum Beispiel nach mehr sozialer Gerechtigkeit.
Warum sorgt Schulz für ein Wiederaufblühen der SPD?
Es gibt zwei Hauptgründe. Zum einen wird Schulz nicht in Verbindung mit der Grossen Koalition und der Politik der SPD der letzten Jahre gebracht. Er wird als «frischer Wind» wahrgenommen und hat das strategisch sehr geschickt für sich genutzt. Zum anderen ist Schulz – anders als seine Vorgänger Gabriel, Beck oder Platzeck – jemand, der beide traditionellen Wählerschaften der SPD anspricht: Einerseits die Arbeiter, andererseits die post-materialistisch orientierte «Neue Linke», deren Sympathisanten zuletzt oft zu den Grünen abgewandert sind. Das ist sein Weg zum Erfolg. Die Politikwissenschaft spricht hier von klassenübergreifenden Koalitionen.
Wenn es zum Kanzlerwechsel käme: Was würde sich unter Schulz ändern?
Aussenpolitisch, denke ich, wenig. Wie Merkel, ist Schulz überzeugter Europäer und wird auf mehr Integration drängen. Innenpolitisch könnte sich aber einiges ändern, insbesondere, wenn es zu einer Rot-Rot-Grün-Koalition kommt. Der Mindestlohn würde sicher angehoben. Spitzensteuersätze könnten erhöht und vielleicht sogar eine Vermögenssteuer eingeführt werden.
Was hätte ein Wechsel für Auswirkungen auf den Politstil?
Der würde sich ändern. Merkel bezieht bekanntermassen oft sehr spät politische Position und lehnt sich nicht mit riskanten Statements aus dem Fenster. Sie verwaltet eher, als dass sie führt. Schulz dagegen will für klare Aussagen stehen und wird sicherlich mehr «anecken». Hier ist er Gerhard Schröder nicht unähnlich.
Was für eine Koalition wäre zu erwarten?
Eine definitive Antwort werden wir erst am Wahlabend haben. Ich denke, der Wahlkampf wird sehr entscheidend sein. Vor Schulz’ Eintreten in die Bundespolitik standen die Zeichen auf Schwarz-Grün. Sowohl die Union als auch die Grünen hatten sich dafür schon in Stellung gebracht. Mit Schulz hat sich das aber quasi über Nacht geändert, und es könnte am Ende für Rot-Rot-Grün reichen. Die Alternative wäre eine erneute Grosse Koalition – wenn auch vielleicht unter SPD-Führung.
Was für eine Rolle wird die AfD spielen?
Ich denke, selbst Schulz wird es nur teilweise gelingen, Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Die AfD wird also – wohl zweistellig – im Bundestag vertreten sein. Sie wird vermutlich noch prominenter in den politischen Debatten mitwirken.
Könnte die AfD auch in der Regierung eine Rolle spielen?
Nein, eine Regierungsbeteiligung ist ausgeschlossen – keine der anderen Parteien würde dies eingehen. Schon jetzt hat die AfD aber den Parteienwettbewerb und den Diskurs verändert. Selbst ohne Koalitionspotenzial hat die AfD also einen grossen Einfluss auf die Politik. Der Politikwissenschaftler Giovanni Sartori spricht hier von «blackmail potential», also Erpressungspotenzial.