SonntagsBlick: Peter Maurer, Sie waren vor etwas mehr als einem Monat in Syrien. Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an den Besuch zurückdenken?
Peter Maurer: Die enorme Zerstörung. Wir konnten in das besetzte Ost-Ghuta einreisen, eine Stadt, die während Wochen belagert und bombardiert wurde. Es gibt dort praktisch kein Haus, das oberhalb des ersten Stocks bewohnbar ist. Das Trinkwasser fehlt, es gibt fast keine Energie und wenig Nahrung. Die banalsten menschlichen Bedürfnisse sind kaum noch gedeckt.
Wie leben die Menschen?
Sie überlebten im Untergrund. Sie wagten sich kaum ans Tageslicht, ihre Gesichter sind bleich. Auf der Strasse prägen viele junge Kämpfer das Bild. Sie sind mehrheitlich unter 18 und schwer bewaffnet. Ich traf eine zerrüttete Gemeinschaft.
Als Sie aus Syrien zurückgekehrt sind, haben Sie in einem Statement geschrieben, Sie hätten genug. Genug von der immer gleichen Rechtfertigung von Gewalt durch die Kriegsparteien. Das sind Worte, die man vom neutralen IKRK selten hört.
Im Syrien-Konflikt rechtfertigen alle Akteure ihre Aktionen mit der Radikalität des Gegners. Es war an der Zeit zu sagen: Ihr könnt über eure Feinde erzählen, was ihr wollt, aber die Bevölkerung hat diese Gewalt nicht verdient. Sie und auch wir sind erschöpft ob dieser billigen Rechtfertigungen.
Der Syrien-Konflikt begleitet Sie seit Ihrem ersten Amtstag am 1. Juli 2012. Und er wird immer schlimmer. Sind wir an einem Tiefpunkt?
Ich bin sehr vorsichtig darin, in Konflikten Höhe- und Tiefpunkte feststellen zu wollen. Uns fehlen schlicht die Daten, die ein solches Urteil zulassen. Sagen kann man aber, dass in Syrien die Hälfte der Bewohner nicht mehr da wohnt, wo sie vor dem Konflikt gelebt hat. Über 10 Millionen Menschen. Das sind Dimensionen, die das humanitäre System als Ganzes überfordern.
Die Lage droht weiter zu eskalieren ...
Wenn Sie auf so engem Raum so viele Mächte mit bewaffneten Kräften und Spezialeinheiten haben, ist das hochexplosiv. Die USA, Russland, Iran, Türkei und Israel – das kann leicht eskalieren. Aber es gibt keine Unvermeidbarkeit. Die Situation kann sich entspannen, wenn die Involvierten das wollen.
Wie gehen Sie persönlich mit diesem Konflikt um? Sie schlafen gemäss eigenen Aussagen vier Stunden pro Nacht.
Mit diesem Amt ist es ein wenig wie im Spitzensport: Wenn Sie jedes halbe Glas Wein zu viel am nächsten Tag spüren, lassen Sie es irgendwann weg. Wichtig für mich ist, dass ich mich auch mit anderen Dingen beschäftige, ausserhalb des humanitären Kontexts. Und das tue ich.
Wie handlungsfähig ist das IKRK in Syrien noch?
Syrien ist unsere weltweit grösste Operation mit einem Budget von 180 bis 190 Millionen Franken pro Jahr. Es ist ein Einsatz der Extreme. Wir sind zwar angesichts der Brutalität des Konflikts an erstaunlich vielen Orten im Land aktiv. Aber trotz dieser Grösse der Operation können wir nicht tun, was wir tun sollten, weil uns die Konfliktparteien zu oft daran hindern. Die Bedürfnisse wachsen deshalb schneller als unsere Möglichkeiten.
In der Schweiz sind humanitäre und die Entwicklungshilfe unter politischem Druck. Es gibt eine Tendenz zu sagen: Wir helfen dann, wenn ihr uns bei der Rückschaffung der Flüchtlinge behilflich seid. Was halten Sie davon?
Ich kann nachvollziehen, dass ein Land, in dem Migration als Problem gesehen wird, nur Geld ausgeben will, das zumindest teilweise zur Lösung dieses Problems beiträgt. Das ist rational. Aus humanitärer Sicht sind wir allerdings sehr daran interessiert, dass uns die Geberländer Spielraum lassen, um Geld dort auszugeben, wo die Bedürfnisse sind, und nicht dort, wo die politischen Prioritäten sind. Das ist die Essenz der humanitären Hilfe.
Die Tendenz geht allerdings global in eine andere Richtung. Hilfe muss einem Zweck dienen.
Richtig. Am Global Humanitarian Summit in Istanbul haben die Geberländer gesagt, sie wollen mehr längerfristige und weniger zweckgebundene Hilfe leisten. Unsere Statistiken zeigen dagegen: Die nicht zweckgebundene Hilfe der Staaten geht massiv zurück. Es ist ein politischer Trend, Gelder im humanitären Bereich an politische Zielsetzungen zu knüpfen.
Ist das so falsch?
Ich sage auch meinen Gesprächspartnern in der Schweiz oft: Wenn ihr interessiert seid, kostengünstig stabilisierend auf jene Gegenden zu wirken, die massgeblich für Migration verantwortlich sind, müsst ihr ins IKRK investieren. Es gibt nichts Effektiveres als schnelle und gute humanitäre Hilfe.
Die Schweiz und das IKRK werden international oft als ein und dasselbe wahrgenommen. Ist das gut?
Was stimmt: Wenn wir ein Problem haben, hat das Auswirkungen auf die Schweiz, und wenn die Schweiz ein Reputationsproblem hat, kann es Leute geben, die das Land mit dem IKRK vermischen. Aber wir haben Fortschritte gemacht, es gibt immer weniger Leute, die uns verwechseln.
Was war problematisch an dieser Nähe?
Es gab Momente in der Geschichte, in denen das IKRK und die Schweiz gegenseitig versucht haben, sich zu instrumentalisieren. Das ist vorbei. Herr Burkhalter und ich haben grosse Anstrengungen geleistet, um das Verhältnis zu entkrampfen. Ich denke, auch mit Herrn Cassis werden wir diesen Weg weitergehen.
Bei den IKRK-Delegierten im Feld geht der Anteil der Schweizer stark zurück. Er liegt noch bei rund 15 Prozent. Die oberste Führungsebene ist im IKRK dagegen immer noch durch und durch schweizerisch. Wird das so bleiben?
Das Komitee, das oberste Führungsorgan des IKRK, ist heute per Definition von Schweizer Bürgern besetzt, und ich sehe keinen Grund, das zu ändern. Es gibt auch keinen Druck. Aber auf der operationellen Ebene findet eine starke Internationalisierung statt, die noch weitergehen wird. Was man nicht unterschätzen darf: Der Pass kann ein Problem sein.
Wie meinen Sie das?
Nicht jede Nation ist gleich flexibel einsetzbar. Sie haben Länder wie Frankreich, die USA, Russland, die stark in Konflikte involviert sind – das wirkt sich auf die Sicherheit der IKRK-Delegierten aus. Da bietet der Schweizer Pass einen Vorteil.
Spüren Sie manchmal auch Neid? Kein Schweizer Bundesrat hat auf internationaler Ebene auch nur annähernd denselben Einfluss wie Sie.
Nein, Neid spüre ich eigentlich nicht. Es ist logisch, dass ich als IKRK-Präsident eher ein Rendezvous mit einem Präsidenten oder dem Verteidigungsminister eines kriegsführenden Landes bekomme. Aber die Schweiz hat in anderen Bereichen bessere Zugänge.
Das IKRK ist die Schutzherrin der Genfer Konvention, die kriegerische Konflikte regelt. Der Konflikt der Zukunft findet auch im Cyberspace statt. Der SonntagsBlick hat vor einem Jahr berichtet, dass es deshalb eine neue digitale Genfer Konvention geben soll. Was ist Ihre Meinung dazu?
Wir müssen präziser definieren, was das internationale Recht im digitalen Zeitalter bedeutet. Im Moment sind die Konturen noch unscharf. Es geht dabei nicht unbedingt um eine neue Konvention, sondern um eine neue Diskussion über Normen und mit neuen Entscheidungsträgern.
Was heisst das?
In der Vergangenheit mussten wir die Rüstungsentwicklung und militärischen Strategien genau verfolgen. Wenn Sie nicht wissen, wie eine Miene funktioniert, können Sie keinen Minenverbotsvertrag verhandeln. Ähnlich ist es in der Digitalisierung. Wir müssen mit den Tech-Companys reden, um zu verstehen, wohin die Entwicklung geht.
Wie gehen Sie das an?
Ich war im letzten Herbst an der US-Westküste und habe Gespräche geführt. Früher war die Definition eines internationalen bewaffneten Konflikts «die Präsenz eines Mitglieds einer bewaffneten Macht im Territorium eines anderen Staats gegen den Willen dieses Staats». Einfach. Aber was bedeutet das im Cyberspace? Wir sind nun daran, die Kernbegriffe der Genfer Konvention in einer vernünftigen Art und Weise zu entwickeln, damit Klarheit herrscht für einen Konflikt im Cyberspace. Darüber hinaus geht es auch darum, die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters für die humanitäre Arbeit zu nutzen. Das ist aber nicht ganz einfach.
Weshalb?
Naturkatastrophen sind politisch mehr oder weniger konfliktfrei. Da lassen Sie eine Drohne hoch, um abzuklären, wo sich die hilfsbedürftigen Menschen befinden, und niemand stört sich daran. Wenn Sie jedoch in Aleppo oder Sanaa in Jemen eine Drohne steigen lassen, wird sie abgeschossen.
Was bringen Ihnen Drohnenbilder?
Drohnen und Satellitenbilder oder Big Data geben uns die Möglichkeit, genauer zu klären, wer bedürftig ist und Hilfe braucht. Aber im digitalen Zeitalter geht es auch um die Frage: Wer regelt den Besitz, den Handel und den Zugriff mit persönlichen Daten? Das IKRK will eine führende Rolle einnehmen, wenn Rahmenbedingungen für die digitale Zeit in der humanitären Hilfe formuliert werden.
Was hat das mit humanitärer Hilfe zu tun?
Um Menschen zu schützen, muss man ihre Identität schützen, und dazu zählt heute auch die virtuelle. Da wird mir immer bewusster: Es liegt in der Verantwortung des IKRK, einen hohen Grad von Sicherheit bei den persönlichen Daten zu garantieren. Diese Daten sind politisch sensibler als zu wissen, wer wo Wasser braucht.
Was bedeutet das konkret?
Für unsere Schutztätigkeit brauchen wir sichere Datenspeicher, da die Informationen über Gefängnisse oder Kontakte zu Kriegführenden sensibel sind. Speicherkapazität und das Aufladen des Smartphones sind heute ein humanitäres Bedürfnis. Das war vor zehn Jahren anders.
Werden Roboter irgendwann IKRK-Delegierte ersetzen?
Nein, wir behalten die Ambition, als Menschen für Menschen tätig zu sein.
Peter Maurer (63) kam 1956 in Thun zur Welt. Nach einem Studium der Geschichte und des internationalen Rechts in Bern, das er mit einem Doktorat abschloss, trat er 1987 in den diplomatischen Dienst ein.
Nach verschiedenen Führungsposten übernahm er im Jahr 2000 die Abteilung Menschliche Sicherheit im EDA. 2004 wurde er Botschafter und ständiger Vertreter der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York.
Im Januar 2010 machte ihn Micheline Calmy-Rey zum Staatssekretär, dem höchsten Beamten im EDA. Am 1. Juli 2012 übernahm Peter Maurer das Amt des IKRK-Präsidenten als Nachfolger von Jakob Kellenberger.
Peter Maurer (63) kam 1956 in Thun zur Welt. Nach einem Studium der Geschichte und des internationalen Rechts in Bern, das er mit einem Doktorat abschloss, trat er 1987 in den diplomatischen Dienst ein.
Nach verschiedenen Führungsposten übernahm er im Jahr 2000 die Abteilung Menschliche Sicherheit im EDA. 2004 wurde er Botschafter und ständiger Vertreter der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York.
Im Januar 2010 machte ihn Micheline Calmy-Rey zum Staatssekretär, dem höchsten Beamten im EDA. Am 1. Juli 2012 übernahm Peter Maurer das Amt des IKRK-Präsidenten als Nachfolger von Jakob Kellenberger.