Pepe Mujica, der «ärmste Präsident der Welt», im Exklusiv-Interview
«Nicht mal für Obama trug ich eine Krawatte»

Er galt als ärmster Präsident der Welt: Pepe Mujica (82) war fünf Jahre lang das Staatsoberhaupt von Uruguay. Ein Gespräch über Gerechtigkeit und Schweizer Velos.
Publiziert: 12.08.2017 um 14:55 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 15:49 Uhr
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Mujica: «Trump macht mir keine Angst. Was mir Angst macht, sind die Meinungen, die seine Wahl begleitet haben.»
Foto: Anibal Ibarra
Konrad Staehelin

«In dieser Wampe stecken neun Kugeln.» Pepe Mujica (82) zieht seinen fleckigen Pulli hoch und streichelt seinen mächtigen Bauch. Es gibt wohl kein anderes Staatsoberhaupt, das so etwas von sich ­behaupten kann. Geschweige denn, so stolz darauf ist.

In den 1960er- und 1970er-Jahren kämpfte Mujica im bewaffneten Widerstand gegen das Militär­regime von Uruguay und wurde verwundet. Von 2010 bis 2015 war er Staatspräsident. Statt in einem ­Palast lebte er wie ein ­armer Bauer in einer Hütte am Rand der Hauptstadt Montevideo, wo er auch zu diesem Interview empfängt. Auch kleiden tut er sich wie ein armer Bauer. Selbst bei Treffen mit dem US-Präsidenten und der deutschen Kanzlerin.

Mujica trat nicht als Präsident zurück, weil sein Volk ihn nicht mehr wollte, sondern weil er sich zu alt für das Amt fühlte. In Uruguays Parlament sitzt er noch immer. Richard Nuñez (41), zwischen 2001 und 2005 der grosse Star beim Schweizer Fussball-Rekordmeister GC, lebt mittlerweile wieder in seinem Heimatland Uru­guay. Als er vom geplanten Interview erfährt, schreibt er ein SMS: «Richte meinem Präsidenten herzliche Grüsse aus. Hätten wir bloss nochmals so einen wie ihn.»

Herr Mujica, Sie könnten sich eine Villa leisten. Wieso wohnen Sie in dieser Hütte?
Pepe Mujica:
In einer modernen Republik soll keiner höher als der andere gestellt sein. Aber es hat sich eingeschlichen, dass Präsidenten rote Teppiche brauchen, mit Trompeten an­gekündigt werden. So entfernen wir uns vom Volk. Dabei sind Präsidenten Menschen aus Fleisch und Blut, die zweifeln, sich aufregen, sich mit Frauen einlassen.

Sollten andere Staatschefs ihr Verhalten ändern?
Ich rede nicht schlecht über andere. Aber wenn ich zu viele Dinge ­besitze, muss ich mich ständig darum kümmern – das würde mich nerven. Aber wer sich das Leben ­erschweren will, bitte.

Was tun Sie stattdessen?
Für mich ist Politik kein Beruf, sondern ein Hobby. Um mich bei der Gesellschaft dafür zu bedanken, was sie mir gegeben hat. Habe ich Zeit übrig, arbeite ich im Garten.

Hier auf Mujicas Grundstück stinkt es, wenn eine Böe den Geruch vom nahen Schlachthof herüberträgt. Ansonsten ist es eine ländliche Idylle. Es ist heiss, die Vögel zwitschern. Bis auf zwei Halbstarke, die seine sozialistische Partei als Wache abgestellt hat, ist Mujicas Hütte über lehmige Strassen frei zugänglich. Hinter dem Häuschen stehen ein paar Gewächshäuser und eine Garage. Darin ­stehen Mujicas alte Traktoren, mit denen er seine wenigen Felder bestellt. Während seiner Amtszeit spendete Mujica 90 Prozent seines ­Einkommens an wohltätige Organisationen und fuhr in einem uralten VW-Käfer zur Arbeit. Sein Spitzname: «Der ärmste Präsident der Welt». Obwohl schon 82 Jahre alt, ist er für Sozialisten weltweit ein Vorbild – der Bernie Sanders (75) Südamerikas.

Der Welt gehts schlecht. Welches Problem ist das dringlichste?
Eine der schlimmsten Krankheiten unserer Welt ist die Schwierigkeit, Unterschiede zu akzeptieren. Sie liegt dem Fanatismus zugrunde.

Konkret?
Die Intoleranz im Westen gegenüber der muslimischen Welt. Aber genauso schlimm ist auch die Konzentration des Reichtums. Wir ­haben noch nie so viel besessen. Aber es ist eine Zivilisation ohne Führung. Ich frage mich oft, ob wir wieder eine Epoche wie die Dreissiger erleben werden. Oder ob die Republiken durch eine globale ­Plutokratie ersetzt werden, geführt durch die grossen Firmen.

Am einfachsten wäre es, einfach die Augen vor der ganzen Misere zu verschliessen.
Der Mensch braucht die Politik, immer. Weil er ein soziales Wesen ist. In Gesellschaften gibt es immer Konflikte, und immer muss jemand sie lösen.

Einer wie Trump?
Er macht mir keine Angst. Was mir Angst macht, sind die Meinungen, die seine Wahl begleitet haben. Verrückte gab es immer schon.

Was wollen Sie dagegen tun?
Das weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass es nicht gut ist, und darum müssen wir kämpfen. Die Globalisierung ist ein Fakt, hat es aber nicht geschafft, soziale und demokratische Standards zu wahren. Damit hat sie die Grundlage für solch fanatische Antworten geschaffen.

Was schlagen Sie vor?
Wir müssen weltweite Regeln aufstellen, damit die Reichen nicht ­immer reicher und die Armen nicht immer ärmer werden. Ich finde den technischen Fortschritt faszinierend. Aber wie sollen die Leute ­ihr Leben finanzieren, wenn ihnen zunehmend die Maschinen die ­Arbeit abnehmen?

23 Prozent der Schweizer sagten letztes Jahr in einer Volksabstim mung Ja zum bedingungslosen Grundeinkommen.
Das Problem daran ist, dass sich viele Leute ans Herumsitzen gewöhnen würden. Für Fortschritte brauchen wir eine Arbeitsmenta­lität. Andererseits werden wir in ­Zukunft kaum mehr alle Menschen beschäftigen können. Also müssen die Reichen für die Arbeitslosen aufkommen.

Im Hintergrund läuft mehrmals ­Mujicas Ehefrau Lucía Topolansky (72) durch und hängt Wäsche zum Trocknen auf. Auch Topolansky kämpfte früher im Widerstand. Sie und Mujica sassen von 1972 bis 1985 in den Gefängnissen der Dik­tatur und wurden teilweise bis zur ­Bewusstlosigkeit gefoltert.

Viele kritisieren Sie, weil Sie die Schergen der Diktatur nicht bestraften, als Sie Präsident wurden. Was fühlen Sie, wenn Sie an Ihre Folterer denken?
Ich hasse nicht. Hass ist blind, wie die Liebe. In der Politik muss man so viele Leute wie möglich auf ­seine Seite bringen. Bei meinem Folterer wird das nicht gelingen. Mit seinem Umfeld schon. Räche ich mich an ihm, bekomme ich die anderen nicht und sie unterstützen die Rechten, das darf nicht sein – no papá! Also muss ich mir manchmal Dinge ­verkneifen und mich zwingen, Geschehenes zu vergessen.

Dafür nehmen Sie in Kauf, dass Folterer und Mörder ihrer gerechten Strafe entgehen.
Ich kämpfe nicht für die Gerechtigkeit, sondern für die Macht. Nur mit Macht kann man auf lange Sicht für Gerechtigkeit sorgen. Sie reden mit einem alten Mann, der viel Zeit zum Nachdenken hatte.

Tut es weh, darüber zu reden?
Nein, mir nicht. Aber ich bin nicht wie die anderen.

Sie können mir nicht erzählen, dass es Sie überhaupt nicht schmerzt, dass Ihr bewaffneter Widerstand gescheitert ist.
Was mir am meisten wehtat, war der Fall der Sowjetunion ohne ­einen einzigen Schuss. Ein Projekt, das so viele Opfer gefordert hatte. Das den Zweiten Weltkrieg beendet und die Nazis besiegt hatte.

Die Sowjetunion war ein wirtschaftliches Desaster und hat seine Bürger brutal unterdrückt.
Ja, wirtschaftlich war sie schwach. Ich weiss schon, vieles lief schlecht. Wir haben gelernt, dass es so nicht geht. Aber die Welt ist scheinheilig: Ein Staat wie Venezuela wird international isoliert, weil es an der ­Demokratie ritzt. Bei Chinas Schandtaten schauen dagegen alle weg, weil man denen viel verkaufen muss.

Ist die Jugend heute unpolitischer?
Ganz sicher. Meine Generation hatte die Illusion, die Gesellschaft zu verändern. Wir wollten die Klassen abschaffen, haben aber überhaupt nichts erreicht.

Erzählen Sie.
Ich komme aus der Generation von Ché Guevara, ich wurde von den ­revolutionären Kämpfen der Fünfzigerjahre beeinflusst, Kolumbien, Kuba. Wir kämpften, und wir wurden eingesperrt. Als wir schliesslich rauskamen, war die Welt eine andere. Wir haben versucht, uns an die neue Welt anzupassen. Ein paar von uns kämpfen bis heute weiter.

Wie lebten Sie damals?
In der Stadt. Manchmal versteckten wir uns in Wohnungen, manchmal in Häusern. Wir führten ein Doppelleben. Ich lief mit falschem Schnauz und Krawatte rum, wie ein feiner Herr. Danach habe ich nie mehr eine Krawatte angezogen. Nicht mal, als ich als Präsident ­Obama oder Kanzlerin Merkel traf. Was für ein nutzloses Kleidungsstück – nur um zu zeigen, dass man ein Mann ist.

Mujica nuschelt stark, seine Aussprache ist feucht, und die Ausdrücke sind derb. Regelmässig unterbrechen Hühner, Katzen und Hunde, die um Mujica herumschleichen, das Gespräch. Seine Lieblingshündin heisst Manuela und ist 21-jährig: Sie hat nur noch drei Pfoten und ist blind. Fühlt sie sich verloren, bellt sie. Dann steht Mujica auf, trottet schwerfällig zu ihr und nimmt sie auf den Arm.

In der Vergangenheit hatte Uruguay auch schon den Beinamen Schweiz Südamerikas.
Als ich ein Kind war, hatten die Engländer viel Einfluss in ganz Südamerika. Sie behandelten uns gut, wir waren reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber schottete sich Europa ab, und die Handels­bedingungen wurden für uns zum Desaster. Alles ging den Bach runter. So wurden wir zum Lateinamerika von heute.

Als Sie Präsident waren, sagten Sie, Uruguay sei auf dem Weg, bald wieder die Schweiz Südamerikas zu sein.
Ja, das sagte ich an der Uno-Generalversammlung in New York. Wir hatten damals ein stabiles Wachstum von vier bis fünf Prozent, es gab je länger je weniger Armut. Aber eigentlich dürfte es hier gar keine Armut geben.

Sind Sie schon einmal in der Schweiz gewesen?
Ja sicher, mehrmals! Beim ersten Mal war ich noch jung. Ich kam nachts in Genf an, und überall auf der Strasse standen Velos herum. Wenn man in Uruguay sein Velo stehen lässt, sieht man es nachher nie wieder. Danach reiste ich noch einige Male für Konferenzen in der Schweiz.

Es gibt noch eine weitere Paral­lele zwischen unseren beiden ­Ländern: Das Ausland stört sich bei beiden an den tiefen Unternehmenssteuern. Der Druck auf die Schweiz bleibt hoch.
Die EU macht das aus Eigennutz – dabei sind das die genau Gleichen, die gestern noch selbst gerne Steuerparadiese gebaut haben. Das ist wie damals, als die Engländer den Sklavenhandel in den Vereinigten Staaten torpedierten. Dabei haben sie selbst sehr lange davon profitiert. Länder sind eben nicht ihren ­Ideen treu, sondern allein ihren ­Interessen.

Als Sie Präsident waren, hat Uruguay als eines der ersten Länder weltweit Cannabis lega­lisiert. Wieso?
Hast du ein Problem, musst du ­etwas ändern. Wir haben 150'000 Kiffer, die allermeisten richten ­keinen Schaden an. Aber sie kaufen von kriminellen, gewalttätigen Drogenhändlern. Um die loszuwerden, mussten wir ihnen das Geschäftsmodell rauben. Wir sagen jetzt keinem, dass Grasrauchen toll ist. Keine Sucht ist gut, überall gibt es Grenzen. Wenn ich zwei Whiskeys am Tag trinke, tut mir das gut. Aber wenn ich einen Liter trinke, bin ich ein Alkoholiker, und sie müssen mich einliefern.

Uruguay – Die Schweiz Südamerikas

Nicht nur, weil es sich als kleines Land zwischen grossen Nachbarn ­behauptet, gilt Uruguay als die Schweiz Südamerikas: Seine Wirtschaft ist gegenüber jenen der benachbarten Krisen­länder Argentinien und Brasilien erfolgreich.

Weltweit Schlagzeilen macht vor allem die ­Drogenpolitik, die Mujica angestossen hat. Nicht nur ist nun der Anbau von Marihuana legal, am 19. Juli 2017 wurde auch erstmals vom Staat ­angebautes Marihuana in Apotheken verkauft. Wer sich registriert, darf bis zu 40 Gramm im ­Monat beziehen.

Mujica ist sehr liberal: Unter ihm legalisierte Uruguay 2012 als erstes südamerikanisches Land die ­Abtreibung und 2013 die gleichgeschlechtliche Ehe.

Nicht nur, weil es sich als kleines Land zwischen grossen Nachbarn ­behauptet, gilt Uruguay als die Schweiz Südamerikas: Seine Wirtschaft ist gegenüber jenen der benachbarten Krisen­länder Argentinien und Brasilien erfolgreich.

Weltweit Schlagzeilen macht vor allem die ­Drogenpolitik, die Mujica angestossen hat. Nicht nur ist nun der Anbau von Marihuana legal, am 19. Juli 2017 wurde auch erstmals vom Staat ­angebautes Marihuana in Apotheken verkauft. Wer sich registriert, darf bis zu 40 Gramm im ­Monat beziehen.

Mujica ist sehr liberal: Unter ihm legalisierte Uruguay 2012 als erstes südamerikanisches Land die ­Abtreibung und 2013 die gleichgeschlechtliche Ehe.

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