Nördlich von Jerusalem gehen zwei Palästinenser mit einem Messer auf einen Israeli los. Das Opfer ist noch ein Kind (†13) – und auch die Täter sind erst 13 und 15 Jahre alt. Der Ältere wird von den israelischen Sicherheitskräften erschossen, der Jüngere liegt im Spital. Nur kurz vor der Attacke versucht eine 16-jährige Palästinenserin einen israelischen Polizisten zu erstechen.
Die Vorfälle von Anfang Woche stehen exemplarisch für eine neue Welle der Gewalt, die sich seit rund zwei Wochen im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern abzeichnet.
Bei einer Serie palästinensischer Schuss- und Messerattacken sind bereits sieben Israelis getötet worden. Mehr als 30 Palästinenser kamen ums Leben – knapp die Hälfte davon Attentäter. Die anderen starben bei Unruhen im Westjordanland oder bei Zusammenstössen mit dem israelischen Militär am Grenzzaun zum Gazastreifen.
«Viele Arme und kein Gehirn»
Die Spannungen zwischen Israeli und Palästinensern sind seit Jahrzehnten ungelöst, immer wieder flackern Kämpfe auf. Der gegenwärtige Aufstand wird als «drohende dritte Intifada» bezeichnet, als «Messer-Intifada» oder als «Intifada der Smartphones». Er hat einen anderen Charakter als etwa die zweite Intifada in den 2000er-Jahren. Dort standen organisierte Selbstmord-Anschläge im Zentrum – heute sind es spontane und unkoordinierte Attacken von jungen Einzeltätern.
«Was wir jetzt sehen ist wie ein Oktopus mit vielen Armen aber keinem Gehirn», sagt Orit Perlov, Expertin für Social Media im arabischen Raum am Institut für Nationale Sicherheit in Tel Aviv in der «New York Times». «Man braucht nichts intellektuell Ausgeklügeltes. Wir sprechen über 15-jährige Buben.»
Sie kämpfen mit kleinen Messern, mit Schraubenziehern und sogar mit Kartoffelschälern. Unter den Angreifern und den Protestierenden sind viele Studenten – auch weibliche. «Wir haben es mit einer Generation zu tun, die sich weder von den politischen Autoritäten, noch von ihren Eltern aufhalten lässt», sagt Sicherheitsexperte Eli Carmon vom Internationalen Anti-Terror Institut in Herzliya auf «Spiegel.de».
Frauen ziehen in den Kampf
Es scheint, als würden insbesondere auch die Frauen aufbegehren. Im besetzten Westjordanland etwa schliessen sich Palästinenserinnen vermehrt Anti-Israel-Protesten an. Sie skandieren Parolen, werfen Steine und Molotowcocktails auf Soldaten. «Nicht nur die Jungs entscheiden über das Schicksal der Nation», zitiert die Nachrichtenagentur AFP eine 18-Jährige. «Wir sind 18, jetzt erwachsen und haben keine Angst mehr.» Sie seien die halbe palästinensische Gesellschaft und hätten deshalb das Recht, das Land zu verteidigen.
Für das Recht ihrer Rebellion nehmen sie den Tod in Kauf. Denn die Antwort der angegriffenen israelischen Soldaten ist brutal. Nebst Blendgranaten und Gummigeschossen fallen auch tödliche Schüsse. Warum sind sie bereit, alles zu opfern?
«Es ist das Gefühl, dass Palästinenser doch in der Lage sind, etwas zu verändern. Veränderung erreichen sie durch Handeln. Sie wollen nicht mehr auf die politische Führung oder die Weltgemeinschaft warten. Dieses Gefühl, etwas verändern zu können, ist sehr gross in der jungen Bevölkerung», erklärt der palästinensische Anthropologe Ala Alasseh gegenüber der ARD.
Online-Rebellion wird blutige Realität
Auf Facebook oder Twitter stacheln sich die Jugendlichen gegenseitig an, bejubeln Bilder von toten Israeli. «Jedes Attentat wird ausgiebig gefeiert», zitiert «Welt.de» Avi, einen Israeli der zusammen mit einem Freund das Internetunternehmen Personal View leitet und auf Facebook Beispiele der Kampagnen sammelt. Besonders beliebt seien auch Karikaturen mit Zeichnungen von Juden, die vor den Messern mutiger Palästinenser fliehen.
Gemäss Social-Media-Expertin Perlov haben sowohl israelische als auch palästinensische Sicherheitsbehörden in den vergangenen Monaten Hunderte Online-Hetzer festgenommen. Doch der Erfolg sei gering. «Ideen werden unsterblich», sagt sie.
Und sie bleiben nicht im Internet. Ermuntert durch Gleichgesinnte bewaffnen sich junge Menschen und gehen raus auf die Strasse. Dort wird ihre Online-Rebellion zur blutigen Realität. (lex)