Wer als russischer Bürger die Wahrheit über den Krieg erfahren will, hat es schwer. Ein Beispiel dafür hat sich beim russischen Staatssender Rossija 1 abgespielt. Ein Mann fragt in einer Talkrunde, warum es so lange dauere, in der Ukraine zu gewinnen. Daraufhin wird ihm vor laufender Kamera gehörig die Meinung gegeigt. Und zwar von Margarita Simonjan (42), Chefredakteurin bei Russia Today und der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja – besser bekannt als «Sputnik» –, die als zentrale Figur der russischen Propagandamaschinerie gilt.
«Wir bekämpfen die gesamte Nato dort drüben. Es ist nicht so einfach für Russland, wir kämpfen gegen einen riesigen Gegner», sagt sie. Und macht mit ihren Aussagen den Gegner deutlich grösser, als er tatsächlich ist. Zwar liefert die Nato Waffen und andere Hilfsmittel, das ist aber nur ein kleiner Teil der eigentlich dem Militärbündnis zur Verfügung stehenden Ressourcen – beispielsweise weigert sich die Nato stets, aktiv, das heisst mit eigenen Truppen, in den Krieg einzugreifen.
«Ich habe mich nicht beschwert!»
Widerspruch gibt es in der TV-Sendung keinen. Simonjan poltert weiter: «Wir sollten unserer Armee und unserem Oberbefehlshaber (Wladimir Putin, Anm. der Red.) helfen, einen überzeugenden Sieg einzufahren, statt uns zu beschweren, dass wir nach 49 Tagen noch nicht gewonnen haben.»
Daraufhin sagt der Mann, der die Frage stellte: «Ich habe mich nicht beschwert.» Und vehementer, fast verzweifelt wirkend, schiebt er nach: «Ich habe mich nicht beschwert! Ich habe mich nicht beschwert! Das ist sehr wichtig: Ich habe mich nicht beschwert!» Er scheint zu befürchten, dass seine unbedachte Äusserung für ihn negative Konsequenzen haben könnte.
«Nato hört uns niesen»
Doch Simonjan, die seit Februar 2022 auf westlichen Sanktionslisten steht, legt nach: «Sie haben mehrmals von einer Unentschlossenheit gesprochen!» Aber die Ukraine sei auch nicht Georgien, sagte sie. 2008 griff Russland Georgien an und konnte nach fünf Tagen die gewünschten Triumphe erzielen.
Dann wiederholt die Journalistin, was sie schon zuvor gesagt hat, nur mit noch mehr Vehemenz: «Aber wir kämpfen sowieso nicht gegen die Ukraine. Wir kämpfen gegen die Nato. Deren gesamte Macht, die gegen uns gerichtet ist. All ihre Waffen, ihr Equipment, die Söldner, die Satelliten, die jede einzelne unserer Bewegungen überwachen, jeden Nieser aufzeichnen. Gegen all das sind wir im Krieg.» Sie schliesst mit der Aussage, dass dies der wohl grösste Test für Russland sei, den sie alle in ihrem Leben zu bestehen haben würden.
Ob Simonjan, in deren Büro ein gelbes Telefon steht, das ausschliesslich zur verschlüsselten Kommunikation direkt mit dem Kreml dient, wirklich glaubt, gegen die gesamte Nato zu kämpfen, ist nicht bekannt. Sicher dürfte dafür sein, dass sich der Mann nicht mehr über die russischen Kriegsfortschritte «beschweren» wird. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.