Nach dem Selbstmordanschlag in Suruc, bei dem ein mutmasslicher IS-Dschihadist 31 Menschen tötete, überschlagen sich die Ereignisse in der Türkei. War der Türkei bislang vorgeworfen worden, zu wenig gegen den Vormarsch der Terrormiliz unternommen zu haben, kündigte das Land an, von nun an mit aller Kraft gegen die im Nachbarland Syrien wütenden Dschihadisten vorzugehen. Die Armee fliegt seither im Süden des Landes Luftschläge, die Polizei nahm Hunderte mutmassliche Terroristen fest.
Doch geht es bei den Operationen wirklich darum, die Dschihadisten zu stoppen? Oder hat Präsident Erdogan eigentlich etwas ganz anderes im Sinn? Türkei-Expertin Dr. Bilgin Ayata vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin schätzt für Blick.ch die brenzlige Lage im Land ein.
Frau Ayata, die PKK hat am Wochenende den Waffenstillstand mit der türkischen Regierung aufgekündigt. Explodiert nun das Pulverfass Türkei?
Dass die Situation gerade eskaliert, ist unübersehbar. Bisher hatte die PKK trotz zahlreicher Angriffe auf Kurden die Waffenruhe eingehalten, doch mit der Bombardierung von PKK-Stützpunkten hat die türkische Regierung de facto den von ihr initiierten Friedensprozess für beendet erklärt. Dass die PKK nun den Waffenstillstand aufgekündigt, ist daher nicht überraschend. In den nächsten Tagen und Wochen wird die angespannte Lage in der Türkei vermutlich zu weiteren Gewaltakten führen. Wer hinter ihnen steckt, ist allerdings kaum eruierbar.
Auslöser für den Abbruch der Friedensverhandlungen war das Attentat in Suruc. War die Türkei bislang kritisiert worden, nichts gegen den IS getan zu haben, fliegt sie nun Luftschläge und nahm Hunderte mutmassliche Terroristen fest. Hat Erdogan einen Kurswechsel vollzogen?
Nein, nicht wirklich, auch wenn das in westlichen Medien gerne so dargestellt wird. Die Türkei hat einen Wandel in der Rhetorik vollzogen – nicht aber in ihrer Politik. Unter dem Vorwand, gegen den IS vorzugehen, wurden vornehmlich kurdische Stellungen in Syrien als auch im Irak bombardiert. Und bei den Razzien am Wochenende wurden vor allem kurdische Aktivisten verhaftet. Der wahre Feind Erdogans ist nicht die Terrormiliz IS, sondern die Kurden – auch in der Aussenpolitik.
Dabei hat die pro-kurdische HDP bei den Parlamentswahlen eben erst einen erstaunlichen Wahlerfolg erzielt.
Eben! Der 7. Juni war ein historischer Tag für die Türkei mit dem Einzug der HDP ins Parlament – und ein herber Rückschlag für die Regierungspartei AKP, die die absolute Mehrheit verpasste. Den Machtverlust, den sie damals erlitt, verzeiht sie den Kurden nicht, die sowohl im Inland als auch im Ausland immer mehr an Ansehen gewinnen. Das, was wir nun sehen, ist die Folge davon.
Erdogan rächt sich?
Für Erdogan kann die Rechnung nur noch aufgehen, indem er ein Chaos im Land provoziert, das die Menschen zur Überzeugung bringt, dass es nun einer starken Hand bedarf. Er will die Kurden wieder als Terroristen darstellen und ihnen so jegliche Legitimation als politische Akteure absprechen. In der Hoffnung natürlich, dass die AKP bei den anvisierten Neuwahlen wieder eine absolute Mehrheit um sich scharen kann.
Wird sein Kalkül aufgehen?
Ich glaube nicht. Die HDP hat es in den Wahlen geschafft, mit ihrer pluralen und inklusiven Weltanschauung nicht nur den Kurden, sondern auch anderen Bevölkerungsgruppen, die unter der konservativen und autoritären Regierung gelitten haben, eine Alternative zu bieten. Auch wenn die Aufkündigung des Waffenstillstandes seitens der PKK dieses neue -und sicherlich zaghafte- Bündnis herausfordern wird, hat die zunehmend repressive Politik der AKP Regierung bisher die Kritiker mehr vereint als entzweit. Lassen sich die die neuen Bündnisse der progressiven Kräfte jetzt nicht in die Enge treiben, besteht die Möglichkeit, dass die Opposition gegen die Regierung sogar noch stärker wird.