Zum Schluss war er eine Legende und sein Leben erschien vielen wie ein Mythos aus grauer Vorzeit. Helmut Schmidt war einer, der alles erlebt und alle überlebt hatte. Und am Ende dieses langen Lebens mag er sich selbst manchmal vorgekommen sein, wie ein altes Möbel im Bonner «Haus der Geschichte», das längst zum festen Inventar der Republik gehört.
Helmut Schmidt war einer der Grossen des vergangenen Jahrhunderts, bis zum Schluss des Wortes und der Rede mächtig, ein bedeutender Politiker und Publizist, aber am Ende trotzdem machtlos. Seine Bücher waren Bestseller, seine immer selteneren Auftritte im Fernsehen Quotenrenner, seine Interviews - vor allem die mit dem «Zeit»-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo («Auf eine Zigarette») - Kult.
Wo immer er sich zeigte, zuletzt im Rollstuhl und fast immer mit brennender Zigarette, wurde er gefeiert, verehrt und bewundert wie ein Popstar. «Ausser Dienst» (so einer seiner letzten Buchtitel) war er populärer und beliebter, als er es während seiner Regierungszeit als fünfter Kanzler der Bundesrepublik je gewesen war. Er nahm die Huldigungen hin in der knurrigen Gewissheit des «elder statesman» der weiss, dass niemand mehr von ihm verlangt, die eigenen Lösungsvorschläge auch umzusetzen.
Kein anderer Regierungschef der Nachkriegszeit hat so viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik zu Lebzeiten so viel Ruhm, Bewunderung und Anerkennung geerntet, wie Helmut Schmidt in seinen letzten Lebensjahren.
Da nämlich begannen die Deutschen zu begreifen, was sie an ihm hatten - und nun nach seinem Tod endgültig vermissen werden: Einen der wirklich herausragenden Politiker und Staatslenker des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts; den umfassend gebildeten, scharfsinnigen und scharfzüngigen Analytiker, der es mit allen Mächtigen seiner Zeit aufnehmen konnte; den kundigen Welt-Ökonomen, der sein Land sicher durch mehrere Wirtschafts- und Währungskrisen führte und den Grundstein für die gemeinsame europäische Währung legte; den international vernetzten Global Player, der die Führer der großen Industrieländer dazu brachte, sich regelmässig auf Gipfeltreffen zu sehen; den Krisenmanager, der einer gewaltigen Sturmflut und dem Terror der RAF trotzte; den Prinzipienfesten, der weder auf Umfragen noch auf seine Genossen Rücksicht nahm, wenn er einmal für richtig erkannte Ziele - Raketenrüstung, Ausbau der Atomwirtschaft - mit an Starrsinn grenzender Beharrlichkeit verfolgte, obwohl ihn das schließlich die Gefolgschaft seiner Partei und das Amt kostete.
Er war ein deutscher Methusalem: altersweise aber keineswegs altersmild, gebrechlich aber immer noch hellwach, in der Analyse glasklar, als Autor brillant.
Mehr als drei Jahrzehnte stand er - von 1953 bis 1987 - als Profi im politischen Geschäft: Bundestagsabgeordneter in Bonn, Innensenator in Hamburg, Chef der Bonner SPD-Bundestagsfraktion, Verteidigungs-, Finanz- und eine Weile zugleich Wirtschaftsminister und schliesslich, von 1974 bis 1982 Regierungschef - ein Bundeskanzler, der von sich selbst mit auftrumpfender Bescheidenheit nur als dem «ersten Angestellten» der Republik sprach.
Mehr als ein Vierteljahrhundert sass er danach als Mitherausgeber und Autor der Hamburger Wochenschrift «Die Zeit» - kommentierend, analysierend, diskutierend - ganz vorne in der ersten Reihe: ein politischer Publizist vom Fach, der wusste, wovon er schrieb und warum er so schrieb: «Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.» Das war der kategorische Imperativ, dem er sich selbst verpflichtet fühlte.
Mit jungen Polit-Karrieristen, wie man sie heute in allen Parteien findet, die vom Kreisssaal unter Umgehung des Hörsaals direkt in den Plenarsaal des Deutschen Bundestages streben, hatte der verhinderte Architekt und Städteplaner Schmidt nichts im Sinn. Sie waren ihm ein Graus. «Berufspolitiker, die ihre Karriere planen wollen» sagte er einmal in einem seiner «Zigaretten-Interviews», «können mir gestohlen bleiben.»
Man wird jetzt viele Reden auf ihn halten. Vielleicht wird eine Strasse im Berliner Regierungsviertel nach ihm benannt oder sicher ein Platz in seiner Vaterstadt Hamburg.
Als Schmidt im Dezember 1977 von einer Reise zu den Pyramiden in Ägypten ins Bonner Kanzleramt zurückkehrte, beschloss er, allen künftigen und früheren Bundeskanzlern (und damit auch sich selbst) – im Rahmen der bescheidenen Mittel seines Repräsentationsfonds – kleine Denkmäler zu setzen: Keine Pyramiden, aber Gedächtnisbäume – für die Nachgeborenen.
Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, widmete er im Garten des Bonner Palais Schaumburg posthum einen Blauglockenbaum, Ludwig Erhard, dem Erfinder der D-Mark und des Wirtschaftswunders, einen Urwelt-Mammutbaum.
Seine damals noch lebenden Vorgänger – Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) – durften selbst entscheiden, mit welchem Gewächs sie sich botanisch zu verewigen wünschten. Kiesinger wählte einen rotblättrigen Ahorn, Brandt pflanzte hintersinnig einen Gingko – Symbol des ewigen Lebens.
Er selbst hat natürlich auch einen Baum gepflanzt. Helmut Schmidt nahm nicht die knorrige deutsche Eiche, nicht die mächtige Buche, nicht die alles überragende Douglasie. Der fünfte Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland wählte die melancholische, nicht die triumphale Geste. Er entschied sich für die Trauerweide.