Niederlande setzen auf umstrittene Herdenimmunität
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Rede von Regierungschef:Niederlande setzen auf umstrittene Herdenimmunität

Nach massiver Kritik an Hollands Herdenimmunitäts-Plan
Rutte krebst bei gelenkter Durchseuchung zurück

Der niederländische Ministerpräsident korrigiert seinen Kurs. Statt auf volles Risiko setzt er nun doch auf die Empfehlungen der Wissenschaftler.
Publiziert: 19.03.2020 um 13:01 Uhr
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Aktualisiert: 19.03.2020 um 14:33 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Erst scherte er aus, jetzt krebst er zurück. Zwei Tage nach seiner historischen Fernsehansprache, in der er sich für eine «kontrollierte Herdenimmunität» aussprach, erklärte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (53) am Mittwoch im Parlament: «Gruppenimmunität» sei nie das Ziel seiner Regierung gewesen.

Noch am Montag hatte er auf «kontrollierte Ansteckung» gesetzt. Sein Plan: Das öffentliche Leben wird nicht eingestellt, junge Menschen ohne Vorerkrankungen sollen sich ruhig infizieren – da die Krankheit bei ihnen in der Regel harmlos verlaufe.

«Das ist unsere erste Wahl», sagt Rutte dazu. «Wir versuchen, den Höhepunkt der Infektionszahlen durch Massnahmen zu nivellieren und zu glätten und über einen längeren Zeitraum zu verteilen.» So werde das Gesundheitssystem nicht überlastet.

Wilders: «Ich will nicht, dass mehr Leute sterben!»

Hinter der Idee der Herdenimmunität stand Ruttes Berater Jaap van Dissel (62) von der niederländischen Gesundheitsbehörde RIVM. Neu war sie allerdings nicht: Auch Briten-Premier Boris Johnson (55) wollte zunächst auf das riskante Vorgehen setzen – und knickte nach massiver Kritik ein.

Auch Rutte schlug heftige Kritik entgegen. Unter anderem verurteilte die Weltgesundheitsorganisation WHO das Vorgehen als hochriskant. Rechtspopulist Geert Wilders (56) kanzelte den Regierungschef im Parlament ab. Auf Twitter schrieb er: «Ich will nicht, dass mehr Leute krank werden! Ich will nicht, dass mehr Leute sterben! Ich will nicht, dass mehr Menschen das Coronavirus bekommen!»

Niederlande haben im Verhältnis dreimal so viele Fälle wie Italien

Am Donnerstagmorgen verzeichneten die Niederlande 2051 Corona-Fälle – im Verhältnis auf die Grösse der Bevölkerung gerechnet etwa dreimal so viele wie Italien. 58 Menschen starben an den Folgen des Coronavirus.

Herdenimmunität gilt vor allem aus zwei Gründen als riskant. Zum einen ist noch unklar, ob und wie sich beim Coronavirus eine Herdenimmunität ausbilden kann. Zum anderen besteht bei der Dynamik des Virus das Risiko, dass bei einer zu schnellen Ausbreitung das Gesundheitssystem kollabiert – und dieses Vorgehen am Ende Tausende Tote fordert.

Kehrtwende im Parlament

Nun klingt das völlig anders. Die Gruppenimmunität sieht Rutte laut seiner Erklärung im Parlament nicht mehr als Ziel, sondern als langfristige Folge. Auf keinen Fall wolle man erreichen, dass sich die Menschen ansteckten. Vielmehr wolle man dafür sorgen, «dass die Intensivpflege in der Lage ist, mit der Zahl der Kranken zurechtzukommen, dass Ältere und Verletzliche beschützt werden».

Rutte fühlt sich missverstanden. Der niederländischen Zeitung «de Volkskrant» sagte der Regierungschef, Äusserungen von ihm über die Möglichkeit der Erlangung einer «Gruppenimmunität» durch eine grössere Zahl von Infektionen seien missverstanden worden. Immunität durch Ansteckungen sei nicht das Ziel, sondern lediglich ein normaler Nebeneffekt.

Einige von Wissenschaftlern empfohlene Massnahmen hatten die Niederlande bereits in der vergangenen Woche getroffen: Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern müssen abgesagt werden. Auch Schulen sind mittlerweile geschlossen. Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat das Land ein faktisches Einreiseverbot für Nicht-EU-Bürger angeordnet.

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