Israel befindet sich am Rande einer Staatskrise. Nach einer Welle massiver Proteste, bei denen Hunderttausende auf die Strasse gingen, hat Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (73) nun die geplante Justizreform vorerst gestoppt. Am Montag hat er sich in einer Rede an die Nation gewandt. Und hat einen vorübergehenden Stopp der umstrittenen Justizreform angekündigt. «Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen», sagte Netanyahu am Montag in Jerusalem. Das Gesetzesvorhaben wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt.
Kurz zuvor hatte Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir eine Verschiebung der umstrittenen Justizreform der rechts-religiösen Regierung in Israel angekündigt. Er habe sich mit Ministerpräsident Benjamin Netanyahu auf eine Verschiebung bis nach der Pause des Parlaments Ende Juli verständigt, teilte ein Sprecher am Montag mit. Im Gegenzug werde eine Nationalgarde unter der Führung des rechtsextremen Ministers eingerichtet. Was dies konkret bedeutet, war zunächst unklar.
Krise dürfte sich nicht entspannen
Trotzdem dürfte es zu weiteren chaotischen Szenen kommen. Denn mit einem Reform-Stopp beruhigt er zwar viele Israeli, verärgert aber seine eigene Likud-Partei sowie rechtsextreme Kreise. Minister der rechten Regierung drohen mit Rücktritt, sollte Netanyahu einlenken und seine Reformpläne stoppen.
Auch der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich (43) goss Öl ins Feuer. «Kommt nach Jerusalem. (...) Wir sind die Mehrheit, lasst uns unsere Stimme erheben. Wir lassen uns unsere Stimme und den Staat nicht stehlen», sagte Smotrich am Montag in einem auf Twitter verbreiteten Video. Die Pläne zum Umbau der Justiz dürften nicht gestoppt werden.
Die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft, denn sie befürchtet, dass die beiden Fronten aufeinandertreffen könnten.
Netanyahu will mehr Macht
Israel steckt seit Wochen tief in der Krise, nachdem Ministerpräsident Netanyahu eine Justizreform angekündigt hatte. Mit der Reform wollte die rechtsradikale Regierung, die seit drei Monaten im Amt ist, die Justiz zurückbinden. So sollte das Parlament mit einer einfachen Mehrheit Entscheidungen des Obersten Gerichts überstimmen. Zudem wollte Netanyahu auch, dass eine Amtsenthebung des Ministerpräsidenten schwieriger wird. Gegen Netanyahu läuft zurzeit ein Korruptionsverfahren.
Warum will Netanyahu die Justiz zurückbinden? «Das Oberste Gericht hat immer wieder Entscheidungen getroffen, die den konservativen Israeli nicht passten», sagt Nahostexperte Erich Gysling (86). So habe das Gericht den Ausbau der Siedlungen auf Palästinensergebieten gebremst und 2005 die Räumung des Gazastreifens unterstützt.
Gegen das geplante Gesetz hatten Hunderttausende demonstriert. Universitäten verkündeten aus Protest einen vorläufigen Unterrichtsstopp, mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik. Die Abflüge auf dem Flugplatz Ben-Gurion wurden eingestellt, der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) drohte mit einem «historischen» Generalstreik. Wegen der chaotischen Entwicklungen wurde die Armee in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.
Kritik von allen Seiten
Von allen Seiten wurde versucht, die Reform zu stoppen. Staatspräsident Isaac Herzog (62) bezeichnete die Pläne der Regierung «eine Gefahr für die Grundfeste unserer Demokratie». Die US-Regierung zeigte sich «tief besorgt über die heutigen Entwicklungen in Israel, die die dringende Notwendigkeit eines Kompromisses noch unterstreichen». Auch Verteidigungsminister Joav Galant (64), wie Netanyahu ebenfalls Mitglied der rechten Likud-Partei, kritisierte die Reform und wurde deswegen aus seinem Amt entlassen.
Sicherheitsexperten warnen, Feinde des Landes – allen voran der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen – könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf den innenpolitisch geschwächten Staat Israel nutzen. Da ist Gysling skeptisch: «Natürlich freut sich der Iran über die israelische Krise, aber eine Attacke wird Teheran nicht wagen. Denn von den Israeli weiss man: Sobald sie bedroht werden, stehen sie wieder zusammen.»
Auch die Lage in den Palästinensergebieten bleibt sehr angespannt: Zum dritten Mal binnen eines Monats kam es am Samstagabend in der Ortschaft Huwara im Westjordanland zu einem Anschlag auf Israelis. Dabei wurden nach Militärangaben zwei Soldaten verletzt, einer davon schwer. Den Berichten zufolge schoss ein mutmasslich palästinensischer Täter aus einem fahrenden Auto.
Erst vor knapp einer Woche war ein Israeli bei einem Anschlag in dem Ort schwer verletzt worden. Vor einem Monat wurden dort zwei israelische Brüder getötet. Anschliessend kam es zu schweren Ausschreitungen israelischer Siedler.