Wladimir trauert um seinen jüngeren Bruder
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Er soll im Massengrab liegen:Wladimir trauert um seinen jüngeren Bruder

Nach Kriegsverbrechen in Butscha
«Soldaten können eine Faszination fürs Töten entwickeln»

Weshalb Menschen im Krieg quälen, vergewaltigen und morden: Wir haben Kriegspsychologe Thomas Elbert (72) gefragt, was der Krieg mit unserer Hemmschwelle anrichtet.
Publiziert: 05.04.2022 um 07:44 Uhr
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Aktualisiert: 05.04.2022 um 09:36 Uhr
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Bei zahlreichen Feldstudien in Krisengebieten hat Thomas Elbert (72) mit Opfern gesprochen, die selber zu Tätern wurden und zum Teil eine Lust am Töten entwickelt hatten. Hier im Bild Afghanistan.
Foto: zVg
Interview: Lea Ernst

Blick erreicht den Kriegspsychologen an der Universität Konstanz (D). Das Massaker von Butscha hat ihn schockiert. Obwohl er genau wisse, dass sich in den momentan zwei Dutzend Kriegen der Welt eine Gräueltat an die andere reihe.

Blick: Herr Elbert, wie können Menschen zu solchen Grausamkeiten fähig sein?
Thomas Elbert: Für den Krieg wird Menschen beigebracht, den Feind auf die eine oder andere Art zu töten. Eine natürliche Hemmschwelle, die wir als Kind entwickelt haben, hält uns davon ab. Wir wollen sie auf keinen Fall überschreiten. Nur die Hälfte der Soldaten aus vier Kontinenten, mit denen ich im Rahmen der Forschung gesprochen habe, sind zu Beginn bereit, überhaupt auf Befehl zu schiessen.

Wieso tun sie es doch?
Die Soldaten sagten alle das Gleiche: Nur das erste Mal Töten ist extrem schwierig. Ihnen wurde schlecht, sie mussten sich danach übergeben, konnten tagelang nicht schlafen. Nach vier oder fünf Mal beginnt man jedoch, sich daran zu gewöhnen, ganz egal, ob das jetzt ein russischer Soldat oder ein IS-Kämpfer ist. Die eigene Hemmschwelle passt sich der neuen Situation an. Genau das ist es, was uns ja dermassen entsetzt. Dass die Moral so komplett ausser Gefecht gesetzt werden kann, dass es überhaupt keine Barrieren mehr gibt.

Verschwinden die Schuldgefühle an einem gewissen Punkt oder lernt ein Soldat einfach, sie zu ignorieren?
In den Truppen trainiert man sich die gegenseitig ab. Wichtig ist jedoch: Soldaten verlieren ihre Empathie nicht – auch russische nicht. Sie lernen im Krieg bloss, nichts mehr für den Feind zu empfinden. Durch extreme Abwertung lernen sie, sich nicht mehr in ihn hineinzuversetzen.

Abwertung durch Propaganda?
Genau. Jeder weiss: Ohne Propaganda kann man keinen Krieg führen. Ob die Nazis, die Amerikaner oder nun die Russen. Will ich einen jungen Menschen an die Front schicken und ihn dazu bringen, grauenhafte Dinge für mich zu tun, muss ich ihm etwas vorlügen, um seine Moral zu brechen und zu verändern. Sehen wir den Feind als Kakerlake, Teufel oder Raubtier, nehmen wir ihn nicht mehr als menschlich ebenbürtig wahr.

In Butscha wurden Zivilpersonen nicht nur getötet, sondern auch gequält und vergewaltigt. Wie erklären Sie sich das?
Solche Gräueltaten sehen wir in jedem Krieg. Soldaten können eine Faszination fürs Töten entwickeln. Im Gehirn wird ein Belohnungssystem aktiviert. Wir nennen das die appetitive Aggression, die nichts mehr mit Selbstverteidigung zu tun hat. Evolutionär brachte uns dieses Belohnungssystem dazu, Tiere zu jagen und uns mit Nahrung zu versorgen. Diese Art von Aggression kann bis zu dem Punkt gehen, an dem ich keine Angst mehr verspüre und ein Lustgefühl verspüre, mich ins Schlachtgetümmel zu stürzen. Es ist die Jagdlust, die erwacht. Sie ist das, was «gute» Kämpfer ausmacht. Diese Lust auf Gewalt erhält im Kriegszusammenhang viel mehr Gelegenheit, ausgelebt zu werden.

Wo hört diese Lust auf Gewalt auf?
Sie hört nicht auf. Die Hälfte von den Kämpfern, die wir befragt haben, sagten, es reicht ab einem gewissen Punkt nicht mehr, den Feind zu töten. Er soll schreien und bluten.

Wir bezeichnen die russischen Kriegsverbrecher als Monster. Könnte der Krieg auch uns selber in ein Monster verwandeln?
Definitiv. Der Blutrausch steckt tief im Menschen drin. Jeder, der es geniesst, sich ab und zu ein Fussballspiel anzusehen, ich inklusive, kennt eine abgeschwächte Form dieser appetitiven Aggression. Fussball ist ein eher sinnloses Konstrukt, 22 Erwachsene rennen einem Ball nach. Das kann man nur toll finden, wenn man sich selber in diesen euphorischen Modus des Kampfs bringt. Natürlich gibt es im Sport klare Regeln, es geht meist fair zu und her. Die sportliche Auseinandersetzung macht Spass. Doch der Mechanismus ist der gleiche; nicht umsonst überschreitet man seine eigene Hemmschwelle als Hooligan eher einmal und schlägt den Feind.

Verschiebt der Krieg auch unsere Hemmschwelle, obwohl wir nur zuschauen?
Die Gefahr ist sehr gross, als Zuschauer eben dieser Faszination der Gewalt zu verfallen. Und sei es nur zu einem vergleichsmässig kleinen Teil. Wir merken es ja selber: Es ist dann extrem schwierig bis unmöglich, einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht den Hauch von Befriedigung zu verspüren, wenn russische Soldaten geschlagen werden. Auch das spricht unser Belohnungssystem an, wie es andere Dinge wie gutes Essen oder Sex auch tun. Männer sind anfälliger auf diese appetitive Gewalt.

Inwiefern?
Diese Aktivität des Belohnungssystems scheint durch Testosteron noch einmal begünstigt zu werden. Natürlich springt es auch bei Frauen an, doch weniger extrem. Dass generell weniger Frauen in den Fussballstadien fiebern, hat neben der kulturellen Frage auch mit der Biologie zu tun.

Zur Person

Thomas Elbert (72) ist Professor für klinische Psychologie und klinische Neuropsychologie an der Universität Konstanz. Er führte zahlreiche Feldstudien in Krisenregionen durch und sprach mit Opfern des Krieges sowie mit Menschen, die selbst auch als Täter gehandelt hatten und die das Töten als lustvoll erlebten.

Thomas Elbert (72) ist Professor für klinische Psychologie und klinische Neuropsychologie an der Universität Konstanz. Er führte zahlreiche Feldstudien in Krisenregionen durch und sprach mit Opfern des Krieges sowie mit Menschen, die selbst auch als Täter gehandelt hatten und die das Töten als lustvoll erlebten.

Kann man nach dem Krieg wieder zu seinem alten Selbst zurückkehren?
Nein. Wenn man diese Lust zum Töten einmal erfahren hat, bleibt sie bestehen. Wenn ich mal eine hervorragende Gänseleberpastete gegessen habe, dann ist die Lust auch nachher da, und ich muss mir aktiv sagen: Nein, das mach ich aus moralischen Gründen nicht mit, weil diese Tiere gestopft und gequält werden. Ich muss die Lust also wieder von mir aus einschränken.

Wie gehen Veteranen damit um?
Für sie ist es sehr schwierig, in die Zivilgesellschaft zurückzukehren. Wird man in der Truppe noch für das Töten gefeiert, darf man zu Hause von dieser Lust niemandem erzählen, ohne zutiefst verurteilt zu werden. Man muss deshalb lernen, diese Form der Gewalt auf eine andere Art und Weise auszuleben, zum Beispiel im Sport oder von mir aus auch mit Computerspielen. Es braucht jedoch eine komplette Entfernung von einem körperlich gewaltvollen Umfeld, sonst ist man im Handumdrehen wieder drin. Hat man das Kriegshandwerk einmal gelernt, hat man es für immer gelernt.

Gibt es Ausnahmen, in denen die appetitive Aggression nicht geweckt wird?
Wenige, aber ja, zum Beispiel die Schweiz! Ihr habt es so lange geschafft, euch aus kriegerischen Handlungen rauszuhalten. Das ist bewundernswert. Ausserdem widerspricht es meinem Menschenbild, das ich schon so lange untersuche, dass ihr euch mit euren vier Sprachregionen nicht schon lange einmal auf die Köpfe gegeben habt.


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