Keine Spur der Entspannung, Recep Tayyip Erdogan (63) bleibt auch nach der gewonnenen Abstimmung kompromisslos. Kaum war am Sonntagabend das Resultat bekannt, gab der türkische Präsident den Tarif durch: Jetzt soll die Todesstrafe wieder eingeführt werden.
Das weckt böse Erinnerung an die 1980er-Jahre. Nach dem Militärputsch wurden damals innert vier Jahren 48 Menschen hingerichtet. 2004 schaffte die Türkei die Todesstrafe ab – heute kennt man sie in Europa nur noch in Weissrussland.
Angst vor Willkür-Justiz
Das Entsetzen nach Erdogans Ankündigung vom Sonntag ist gross. Auch die Kurden in der Schweiz sind schockiert. S. K.* vom Vorstand vom Verein Dem-Kurd, der gestern Abend in Bern zu einer Kundgebung einlud, zu BLICK: «Viele von uns haben Angst, in die Türkei zu reisen. Wir wissen nun nicht, womit wir bei dieser Willkür-Justiz zu rechnen haben.»
K. erwartet auch, dass Schweizer mit türkischer Herkunft nicht mehr einreisen dürfen. «Es gab schon vorher immer wieder unbegründete Einreiseverbote für Landsleute, die den türkischen Pass abgegeben haben.»
Der Kurde ist seit vier Jahren nicht mehr in seine ursprüngliche Heimat zurückgekehrt. «Und ich habe es auch nicht vor. Es wäre viel zu gefährlich.»
Angst um Öcalan
In besonderer Gefahr sieht S. K. jene Personen, die Erdogan als Terroristen oder Verräter einstuft. Dazu zähle zum Beispiel PKK-Anführer Abdullah Öcalan (69). K.: «Für ihn schätze ich die Gefahr am höchsten ein, da er schon inhaftiert ist.» Öcalan war bereits 1999 zum Tode verurteilt worden. Wegen Abschaffung der Todesstrafe wurde das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt.
Ebenfalls gefährdet ist Fethullah Gülen (75), der laut Erdogan hinter dem Putsch von 2016 stehen soll. Der im US-Exil lebende Gülen muss sich hüten, je wieder einen Fuss in die Türkei zu setzen! K.: «Alle, die sich von Erdogan distanziert haben, haben Grund zur Sorge.»
Angst vor Spionen
Die Türken in der Schweiz befürchten auch, dass Erdogan Spione auf sie ansetzt. Hakan Gürgen, Vertreter des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), geht davon aus, dass Türken in der Schweiz nun verstärkt beobachtet oder ausspioniert werden. Vor allem säkulare Landsleute seien im Visier regierungsnaher Kreise. Der HDK ist die treibende Kraft hinter der Gründung der Oppositionspartei HDP.
Hakan Gürgen wünscht sich deshalb, dass die Schweizer Regierung offiziell «Kritik ausüben würde» – am Verletzen demokratischer Regeln und an der Gewalt in der Türkei.
Keine Angst vor Provokation
Weniger drastisch beurteilt man Erdogans Ankündigung bei der CHP Schweiz. Nadir Köklü, Präsident der sozialdemokratischen Partei, hat keine Angst, in die Türkei zu reisen. Köklü zu BLICK: «Die Todesstrafe ist zwar eine Provokation, aber ich bin nicht sicher, ob sie Erdogan tatsächlich durchziehen wird.»
Denn Erdogan müsse alles daransetzen, die Lage in der Türkei zu beruhigen und die Wirtschaft in Schwung zu halten. Köklü: «Das sehr knappe Resultat sowie das Nein in den grossen Städten waren für ihn ein grosser Dämpfer.»
* Name der Redaktion bekannt