Nach dem «Wahlsieg» von Nicolás Maduro
Venezuela im Würgegriff der Diktatur

Oft genügt ein Verdacht, um als Regime-Gegner im Gefängnis zu landen. Allein nach den Wahlen Ende Juli wurden in Venezuela mehr als 2500 Menschen verhaftet. In Folterzentren ringen sie ums Überleben, während Familien und Menschenrechtler für ihre Freilassung kämpfen.
Publiziert: 02.11.2024 um 18:36 Uhr
|
Aktualisiert: 02.11.2024 um 19:50 Uhr
1/11
Seit der erneuten und umstrittenen Wiederwahl von Nicolás Maduro am 28. Juli 2024 protestieren in Venezuela regelmässig Hunderttausende gegen das autoritäre Regime.
Foto: Linda Käsbohrer
RMS_Portrait_1131.JPG
Linda KäsbohrerFotografin

«Libertad! Libertad! Libertad!», tönt es aus allen Richtungen. Die Demonstranten in den Strassen der Hauptstadt Caracas pfeifen, schreien und lärmen mit Kochtöpfen. Ihre Freiheitsrufe klingen nach Wut und Angst, aber auch nach unerschütterlichem Mut. Sie sind Anhänger der Opposition, verlangen das Ende der Diktatur von Nicolás Maduro (61) und die Anerkennung von Edmundo González (75) als rechtmässigem Präsidenten.

Diego Casanova Maita steht inmitten der aufgewühlten Menge. «Wir haben gewonnen. Alle politischen Gefangenen sind unschuldig», steht auf dem grossen Stück Papier, das er vor sich hält. Und der Name seines Bruders José Pérez Maita. Für dessen Freilassung ist der 28-Jährige heute auf die Strasse gegangen. José ist einer von mehr als 2500 Venezolanern, die seit der zweifelhaften Präsidentenwahl am 28. Juli festgenommen wurden. «Ich will, dass die Welt die Wahrheit über die Situation hier in Venezuela und die über den Fall meines Bruders erfährt», sagt Casanova Maita.

Diego Casanova Maita kämpft bei den Protesten in Caracas für die Freilassung seines Bruders José Pérez Maita.
Foto: Linda Käsbohrer

Am Nachmittag des 29. Juli suchte der 26-jährige José Pérez Maita nach seiner Mutter, die anders als sonst noch nicht nach Hause gekommen war. Während er hektisch durch die Strassen der Nachbarschaft läuft, ist das Land in Aufruhr. Einen Tag zuvor hatte die linientreue Wahlbehörde den seit 2013 regierenden Maduro erneut zum Sieger erklärt. Die Opposition sprach von Wahlbetrug und reklamierte den Sieg für ihren Kandidaten Edmundo González, der mittlerweile nach Spanien ins Exil geflohen ist. Pérez Maita gerät zufällig in einen der Protestmärsche. Vermummte zerren ihn brutal auf ein Motorrad und rasen mit ihm davon – vermutlich «Colectivos», bewaffnete Anhänger des Diktators. Pérez Maita gehörte gar nicht zu den Demonstranten, aber das spielte offenbar keine Rolle. Die Behörden rechtfertigen Festnahmen wie die von José in der Regel als Massnahme gegen angebliche Umsturzversuche der «faschistischen» Opposition.

Fast 48 Stunden vergehen, bis die Familie erfährt, dass er in einer Zelle der örtlichen Polizei festgehalten wird. «Wir hatten ihn überall gesucht, bei den Nachbarn, in Krankenhäusern und Polizeistationen. Niemand konnte uns weiterhelfen», erzählt Casanova Maita im Wohnzimmer von Pérez Maitas und seiner Tante Irma Larez im Armenviertel von Charallave, einer Stadt im Bundesstaat Miranda: ein erdrückend heisser Raum, Betonwände, vergitterte Fenster. In der Ecke steht ein alter Vogelkäfig, aus dem drei Wellensittiche ihr schrilles Gezwitscher ertönen lassen.

Seit der Inhaftierung von José Pérez Maita kommt die Familie öfter zusammen.
Foto: Linda Käsbohrer

Das Haar der Tante ist zu einem Knoten gebunden, die kleinen Herzen auf ihrer Hose und den abgetragenen Flip-Flops passen nicht zu ihrer ernsten Ausstrahlung: «José will sein altes Leben und seine Arbeit zurück. Er will in Freiheit leben.» Sie zeigt, was ihr Neffe aus der Gefangenschaft geschrieben hat: «Das ist alles andere als einfach, ich hoffe, dass es gut ausgeht.» Pérez Maita, ein gelernter Gärtner, war gerade dabei, sein eigenes Haus zu bauen. Er träumte davon, eine Familie zu gründen.

«Ich weiss, dass er leidet», sagt Casanova Maita dumpf und berichtet von den Haftbedingungen in venezolanischen Gefängnissen: «Ein Betonblock mit einer dünnen Matte dient ihm als Bett, ein Loch im Boden als Toilette, an die frische Luft darf er nicht. Oft teilen sich mehrere Gefangene winzige Zellen – ohne Privatsphäre und ohne Zugang zu sauberem Wasser.» Oft seien die Mahlzeiten unzureichend, die Insassen sind also auf Essen angewiesen, das ihnen die Familien bringen. Doch die Besuchszeiten sind begrenzt: eine Person, eine Stunde pro Woche.

José Pérez Maita befindet sich bereits seit über 80 Tagen in Gefangenschaft.
Foto: Linda Käsbohrer

Diego Casanova Maita und seine Familie haben alles versucht, um José Pérez Maita zu helfen. Ein Antrag auf private Verteidigung wurde mehrfach abgelehnt, seine Verhaftung pauschal mit einer Anordnung des Präsidenten begründet. «Das Justizsystem ist komplett unter ihrer Kontrolle. Der Staat kontrolliert alles», sagt Casanova Maita. Selbst Familienmitglieder, die Anwälte sind, dürfen ihre Verwandten nicht verteidigen, da öffentliche Anwälte, die von der Regierung gestellt werden, die Verfahren leiten.

Zudem hätten die «audiencias preliminares», die Vorverhandlungen, im Fall von José längst stattfinden müssen. Laut Gesetz müssten sie spätestens 45 Tage nach der Festnahme erfolgen. «Die Verfahren werden unendlich in die Länge gezogen, das zermürbt uns», gesteht Casanova Maita. Doch die Familie hat auch Angst vor diesen Vorverhandlungen: «Oft werden die Angeklagten so unter Druck gesetzt, dass sie Taten gestehen, die sie nie begangen haben – in der Hoffnung, ihre Strafe zu mildern.»

Trotz aller Angst und Ohnmacht, trotz des Gefühls, der staatlichen Willkür ausgeliefert zu sein, hofft die Familie, dass Pérez Maita bald wieder nach Hause kommt. «Er hat es nicht verdient, dort eingesperrt zu sein. Weder er noch alle anderen politischen Gefangenen.» Der 10. Januar gibt der Familie Hoffnung. An diesem Tag beginnt in Venezuela offiziell das neue Amtsjahr des Präsidenten. Es wird entschieden, ob Maduro im Amt bleibt oder abgesetzt wird. Casanova Maita fügt hinzu: «Dieser Tag gibt uns die Chance, das Blatt zu wenden. Jetzt liegt es an uns, diese Bewegung zu stärken und den Wandel zu erzwingen.»

Andreina Baduel kennt die Repressionsstrategie des Regimes allzu gut. Ihr Vater, Raúl Baduel, war ein enger Verbündeter des früheren Präsidenten Hugo Chávez. Als er mit dessen Regierung brach, wurde er zu einem der prominentesten Opfer politischer Verfolgung in Venezuela. Die 38-Jährige nutzt jede Möglichkeit, ihre Botschaft deutlich zu machen: «Liberen a todos los presos políticos» (Befreit alle politischen Gefangenen) steht in grossen Buchstaben auf ihrem weissen T-Shirt. Weiss ist die Farbe der Opposition und des friedlichen Widerstands gegen das Maduro-Regime. Baduel, langes, dunkles Haar und Sommersprossen, nimmt einen Schluck von ihrem eisgekühlten Wasser, dann erzählt sie:

Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Andreina Baduel.
Foto: Linda Käsbohrer

«Mein Vater wurde inhaftiert, gefoltert und schliesslich durch unterlassene medizinische Versorgung ermordet. All das, weil er den Kampf für Venezuelas Freiheit nie aufgegeben hat.» Um die Umstände seines Todes zu vertuschen, wollten die Gefängnisaufseher Andreina Baudels Bruder zwingen, ein Video aufzunehmen, in dem er behaupten musste, sein Vater sei an Covid gestorben. Eine unabhängige Untersuchung der Todesursache liess die Regierung nicht zu. «Das Regime hat unsere Familie und unseren Namen kriminalisiert, weil wir für Menschenrechte und Demokratie in Venezuela kämpfen.» Am 12. Oktober jährte sich der Tod von Andreina Baudels Vater zum dritten Mal. «An diesem Tag leidet unsere Familie jeweils unter den intensivsten seelischen Schmerzen.»

Andreina Baduel mit ihrem Vater Raúl und ihrer Schwester Margareth im Jahr 2005.
Foto: zvg / Andreina Baduel

Auch ihr Bruder Josnars sitzt jetzt seit mehr als vier Jahren im Gefängnis. Er wurde zur Höchststrafe von 30 Jahren verurteilt; bis heute weiss niemand, unter welchen Umständen er festgenommen wurde. Die meiste Zeit sass er im berüchtigten Gefängniskomplex El Rodeo, bekannt für Überbelegung, Gewalt unter Insassen und extrem harte Haftbedingungen: «Man hängt ihn auf, um ihn zu schlagen, versetzt ihm elektrische Schläge an den Hoden und würgt ihn mechanisch bis zur Erstickung.» Josnars habe mehr als 25 Kilo verloren. Wegen seines Gesundheitszustands benötige er dringend mehrere Operationen. Seit April ist er im speziell für politische Gefangene errichteten Folterzentrum El Helicoide eingesperrt.

Der verstorbene Raúl Baduel und sein aktuell inhaftierter Sohn Josnars Adolfo Baduel.
Foto: zvg / Andreina Baduel

«Manchmal glauben die Leute, das alles seien Übertreibungen, aber nur wir wissen, was wir durchmachen.» Baudel prangert die Missstände öffentlich an. Ihre grösste Angst als Journalistin ist trotz aller Einschüchterungen und Schikanen nicht, selbst verhaftet zu werden, sondern ihren Bruder wie ihren Vater durch die Grausamkeit des Systems zu verlieren. «Der Kampf um das Leben meines Bruders», sagt Baudel, «ist auch der Kampf für einen Wandel in Venezuela.»

Andreina Baduel (l.) und Diego Casanova Maita (zweiter von rechts) bei Protesten in Caracas am 28. September 2024.
Foto: zvg/Diego Casanova

Ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen beschreibt die Lage des südamerikanischen Landes als eine der «schwersten Menschenrechtskrisen der jüngeren Geschichte». Seit den Wahlen im Juli habe die staatliche Repression gegen jede Art von Kritik, Opposition und Dissens stark zugenommen. Während die Proteste im Land deutlich nachgelassen haben, richtet sich die Repression immer stärker auch gegen Politiker und Aktivisten. Erst vor zwei Wochen wurde Rafael Ramírez wegen angeblicher Korruption festgenommen, Bürgermeister der Millionenenstadt Maracaibo und Teil der Oppositionspartei Primera Justicia.

Lisette González, Aktivistin der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Provea, zeigt sich besorgt über die humanitäre Lage in ihrem Land: «Dieses Netz der Repression spannt sich über das gesamte Land und trifft vor allem die Schwächsten. Viele Familien dürfen ihre inhaftierten Angehörigen nicht besuchen. Sie leben in ständiger Angst um deren Wohlergehen.» Der einzige Fortschritt sei bislang die Freilassung von etwa 80 Minderjährigen Anfang September. Laut den aktuellen Daten der Menschenrechtsorganisation Foro Penal befinden sich weiterhin 70 Minderjährige in Haft.

Die Regierung reagiert scharf auf die Unterstützung von Familien politischer Gefangener, die sich organisieren und gemeinsam für deren Freilassung kämpfen wollen. «Sie behaupten, Provea sei von der CIA gesteuert», sagt González. Das Regime habe den legislativen Druck auf Gruppen wie ihre nach den Wahlen massiv verschärft: «Letztlich zielen die neuen Gesetze darauf ab, NGOs komplett zu unterdrücken und sämtliche gesellschaftlichen Handlungsspielräume endgültig zu schliessen.»

Lisette González, Menschenrechtsaktivistin der NGO Provea.
Foto: Linda Käsbohrer

Was González Hoffnung gibt, ist die kürzlich beschlossene zweijährige Verlängerung der Fact-Finding-Mission der Vereinten Nationen. Deren Auftrag: Untersuchung und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Venezuela, um Beweise für zukünftige Strafverfahren zu sammeln. Dankbar sagt die Aktivistin: «Die Entscheidung des Uno-Menschenrechtsrats zeigt, dass uns die internationale Gemeinschaft weiterhin unterstützt. Die Mission wird die Verbrechen und die Repression des Regimes zwar nicht stoppen, aber sie bringt uns zumindest der Gerechtigkeit und der Wahrheit für die Opfer ein Stück näher.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?