Ungewöhnlich still ist es auf dem Perron der Londoner U-Bahn. Menschen starren aufs Handy. Oder ins Leere. Niemand redet. Bis es aus dem Lautsprecher krächzt: «Wir haben ein Problem mit einer Weiche.» Die Züge auf der Jubilee Line seien verspätet. «Es fängt an», sagt ein Passagier, «alles bricht ein.» Er hält eine Zeitung in der Hand. «We’re Out», titelt das Blatt. Wir sind draussen. «Wir Briten sind am Arsch», murmelt er.
London am Tag nach dem Brexit. Die Sonne scheint, und doch sind die meisten bedrückt. Eine knappe Mehrheit der Briten hat sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden, die meisten Londoner wollten bleiben. Von Schock sprechen sie im Pub, auf der Strasse, im Café.
Frauen tragen handgemalte Schilder zu Downing Street Nummer 10. Dort wohnt Premier David Cameron (49), der am Morgen seinen Rücktritt bekannt gab. «Ich bin Europäerin, nicht Britin», besagt ein Schild. Ein Mann wedelt mit der Europa-Flagge.
Im Red Lion Pub auf der anderen Strassenseite trinken Beamte Bier. «Wir in London haben keine Ahnung, wie der Rest des Landes tickt», sagt einer. Tief gespalten sei das Land. «Nicht entlang von Rasse oder Religion, sondern entlang der Klassen.» Für den Brexit hätten jene gestimmt, die keinen Job hätten, im Spital lange warten müssten, deren Kinder mit 30 anderen ein Klassenzimmer teilten.
Strahlend geht Craig Mackinlay (49) am Pub vorbei. Er vertritt die Konservativen im Parlament, hat am Jackett einen «Vote Leave»-Pin. «Ich bin einfach glücklich», sagt er. «Endlich sind wir wieder ein normales Land, das mit allen direkt verhandeln kann.» Mackinlay sagt: «Ich will wie die Schweizer leben, ihr habt mehr Handelsverträge mit der Welt als die Briten.»
Anders das Bild vor der alten Börse Londons. Mit hängenden Köpfen gehen Banker durch die Strasse. «Ich habe heute eine Stange Geld verloren», sagt John (43), der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Sein Vermögen sei in Aktien angelegt. Weltweit sind die Börsen eingebrochen. Bis wann wird er die Verluste wettmachen? «Es wird lange dauern, eine Rezession scheint sicher.» Er sorge sich um seine Kinder – und um Grossbritannien. «Schottland und Nordirland werden sich wohl abspalten wollen.» Beide Länder haben sich klar für einen Verbleib in der EU ausgesprochen.
«Die Union ist tot», sagt sogar Sian Boultby (21). Sie küsst ihren Freund auf der Bond Street, mitten im schicken Einkaufszentrum. Hier jobbt sie ein paar Monate lang in einem Kleiderladen. Danach möchte sie Ingenieurin werden, in Deutschland studieren. «Als wir das Resultat hörten, haben wir nur geflucht», sagt Boultby. «Soll ich Kinder in einem rassistischen Land zur Welt bringen?» Worum sie sich besonders sorgt: «Wo sollen die 5,5 Millionen Briten leben, die heute in der EU leben und nun zurückmüssen?» Sie und ihr Freund hätten einen Fluchtplan: «Wir gehen nach Schottland – oder Kanada!»
Für die Buchhalterin Neda Ranie (41) ist das Resultat ein «Albtraum». Sie wickelt für europäische Handelsfirmen Steuern ab. «Jetzt braucht es für jedes Land separate Abkommen.»
Wenig Zeit hat Chris Ellis (39). Der Vermögensverwalter ist auf dem Weg zu einem Kunden. Scharf kritisiert er die britischen Politiker. «Das hat uns David Cameron eingebrockt, er dachte nur an sich selbst, als er das Referendum ansetzte.» Sein Rücktritt sei folgerichtig. Den möglichen Nachfolger Boris Johnson (52) bezeichnet Ellis als «Witz». Grossbritannien folge jetzt «dem Schweizer Modell», sagt Ellis. «Wir wollen alles aus Europa – ausser Migranten.»
Rassisten seien sie aber nicht. Viele hätten aus reiner Not abgestimmt. Der Entscheid sei demokratisch gefallen und zu respektieren. «Nicht alle der 17 Millionen Brexit-Befürworter sind Idioten!»