Drei Tage und 22 Stunden – so lange dauerte Erdogans Schweigen. Die liberale türkische Zeitung «Hürriyet» hatte nach den Parlamentswahlen im Land einen Zähler eingerichtet, der festhielt, wie lange der türkische Präsident nicht mehr öffentlich auftrat. Erst heute Mittag blieb die Stoppuhr schliesslich stehen.
Das Staatsoberhaupt – der grosse Verlierer der Wahlen – hielt bei einer Uni-Abschlussfeier in Ankara eine Rede. Darin gab er sich kämpferisch. «Wer von einem Chaos in der Türkei träumt, der wird enttäuscht werden», sagte Erdogan.
Er nehme seine «Verantwortung als erster vom Volk gewählter Präsident» ernst. Das Ego müsse nun zurückgestellt werden und eine neue Regierung möglichst rasch gebildet werden, meinte er. Ob er damit auch sich selbst ins Gewissen sprach?
Auch auf Twitter verstummt
Erdogans Partei, die islamisch-konservative AKP, konnte am Sonntag gerade einmal 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Sie ist damit weit entfernt von der Zweidrittelmehrheit, die der Präsident ursprünglich angestrebt hatte, um eine Verfassungsänderung durchsetzen zu können, die ihm mehr Macht zugeschanzt hätte.
Am Wahltag selbst trat Erdogan ein letztes Mal öffentlich auf. Danach wurde er zwar noch hie und da gesehen – öffentlich trat er allerdings bis heute nicht auf. Auch auf Twitter war Erdogan plötzlich nicht mehr aktiv. Einzig per schriftlicher Stellungnahme äusserte er sich zur Wahl. Türkischen Medien zufolge soll er zudem Sitzungen abgesagt haben.
«Türkei geniesst die Stille»
Die Stille sorgte für Lärm in den türkischen Medien. Denn in den Tagen vor der Wahl war Erdogan überpräsent. Total über 350 Stunden soll der 61-Jährige während des Wahlkampfs im Fernsehen zu sehen gewesen sein. «Hürriyet» sprach von durchschnittlich drei Auftritten pro Tag.
Und dann herrschte plötzlich Funkstille. «Türkei geniesst die Stille», titelte die Zeitung «Cumhuriyet» am Dienstag. Selahattin Demirtas, Co-Präsident der pro-kurdischen Partei HDP liess, an Erdogan gewandt, verlauten: «Es gibt keinen Grund, in Panik auszubrechen, frustriert zu sein oder sich im Palast einzuschliessen.» Und fügte - wohl mit kleinem Seitenhieb auf Erdogans nun geplatzten Pläne zur Verfassungsreform – an: Die Macht befinde sich schliesslich nicht in seinem Besitz, sondern gehöre dem Volk. (lha)