Ihre Aktion beweist echte Zivilcourage: Die TV-Journalistin Marina Owsjannikowa (43) tauchte während einer Liveübertragung von Russlands Hauptnachrichtensendung mit einem Plakat gegen Russlands Invasion in die Ukraine auf und rief dazu: «Stoppt den Krieg, kein Krieg!» Seither wird sie als Heldin und Symbol des Widerstands gefeiert, wurde aber festgenommen und verhört. Inzwischen ist sie wieder auf freiem Fuss – ihr droht jedoch eine lange Haftstrafe.
Woher nehmen Menschen wie Marina Owsjannikowa den Mut, sich aufzulehnen und dabei alles zu riskieren? Dieter Frey (75), emeritierter Professor für Sozialpsychologie aus München (D), hat darüber geforscht, was Menschen mutig sein lässt. Laut dem Experten ist der Auslöser dafür eine Mischung aus Ohnmacht und Empörung. Owsjannikowa habe gewusst, dass die russische Gesellschaft mit Falschinformationen manipuliert werde – und dass ausser ihr nur wenige Menschen etwas dagegen unternehmen könnten. «Sie stellte sich die Frage: Bin ich ein Feigling oder übernehme ich Verantwortung?»
Owsjannikowa hatte dafür die charakterlichen Voraussetzungen. Frey sagt: «Menschen, die sich so auflehnen, haben einen klaren Wertekompass für Fairness, Anstand und Verantwortungsgefühl.» Dabei spielten auch die Erziehung und das persönliche Umfeld eine grosse Rolle.
Nur 10 bis 20 Prozent haben Mut zu widersprechen
Die Forschung geht davon aus, dass etwa 10 bis 20 Prozent den Mut zur Zivilcourage in sich tragen – wie das sogenannte Milgram-Experiment aus dem Jahr 1961 zeigte. Dort mussten Probanden anderen Menschen jedes Mal, wenn sie eine Aufgabe falsch lösten, einen Elektroschock versetzen. Und die Mehrheit war bereit, auf Befehl zu foltern und zu töten. Vor wenigen Jahren gab es ähnliche Experimente – mit ähnlichen Resultaten: Nur ein Viertel begehrte gegen die Befehle auf und zeigte Zivilcourage.
Doch gemäss Frey gibt es Hoffnung, denn Zivilcourage ist erlernbar. Er empfiehlt Kurse, wie sie in der Schweiz unter anderem von Amnesty International angeboten werden. Die zuständige Bildungsbeauftragte Julia Dubois lehrt dort, wie man hinsieht und handelt statt wegschaut und schweigt. Sie sagt: «Für Zivilcourage braucht es Mut, Aufmerksamkeit und einen kühlen Kopf.» Das sei nicht nur in Ausnahmesituationen nötig, sondern auch im Alltag. Eine wichtig Erkenntnis: Wenn einer vorangeht, folgen ihm andere. «Wenn hingegen niemand eingreift, spielt oft der Bystander-Effekt», sagt Dubois. Alle denken, die Umstehenden seien besser qualifiziert, um zu handeln – und nehmen sich so aus der Verantwortung.
Die Vorbildfunktion unterstreicht auch Psychologie-Professor Frey: «Marina Owsjannikowa setzt eine klare Botschaft: Sie zeigt sich als Vertreterin einer neuen Generation in Russland, die dem Putin-Regime offen widerspricht. Das hat eine enorme Wirkung.» Denn auch das hat sich im Milgram-Test gezeigt: Wenn die Probanden von einem zweiten Lehrer begleitet werden, der sich weigert, den Elektroschock auszulösen, dann ist nur noch die Hälfte bereit zu quälen. Widerstand regt zum Nachahmen an.
Diese Menschen waren mutig
Der «Tank Man»: Als Chinesen in Peking 1989 auf dem Tiananmen-Platz für mehr Demokratie demonstrierten, schlug die chinesische Regierung zurück. Der amerikanische Fotojournalist Jeff Widener dokumentierte am
5. Juni, wie sich ein Mann ganz alleine vor vier Panzer stellte. Wenige Momente später zogen ihn Menschen zur Seite. Ob es Passanten oder Sicherheitskräfte waren, ist bis heute ungeklärt. Niemand weiss, was mit dem Mann passierte.
Die Frau von der Enghelab-Strasse: Vida Movahed, eine Iranerin Anfang 30, stellte sich am 27. Dezember 2017 auf einen Stromkasten und hielt ihr Kopftuch an einem Stock fast eine Stunde lang in die Höhe. Für ihren Protest gegen den Kopftuchzwang im Iran suchte sie sich die Enghelab-Strasse aus, was Revolution auf Persisch bedeutet. Sie wurde verhaftet. Ihr Bild inspirierte zahlreiche Frauen dazu, die Aktion nachzuahmen.
Der saudische Blogger: Raif Badawi (38) gründete 2008 das Online-Forum «Das Liberal-Freie Netzwerk», eine Website über Politik und Religion in Saudi-Arabien. Er wurde wegen «Beleidigung des Islams» verhaftet und öffentlich ausgepeitscht. Am 11. März 2022 wurde er nach zehn Jahren aus der Haft entlassen. Von seiner Familie, die in Kanada im Exil lebt, bleibt er weiterhin getrennt: Er darf Saudi-Arabien für weitere zehn Jahre nicht verlassen.
Demonstrantin in Minsk: Am 19. September 2020 nahm die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin Natallia Hersche (52) in Minsk an einer Demonstration gegen das Regime des Machthabers Alexander Lukaschenko (67) teil. Sie wohnt in der Schweiz und war zu Besuch in Minsk. Hersche wurde verhaftet, so wie Hunderte andere Demonstranten in Belarus. Erst kürzlich, nach 17 Monaten in Haft, wurde sie entlassen und konnte in die Schweiz zurückreisen.
Das pakistanische Mädchen: Malala Yousafzai (24) wurde schon als Elfjährige bekannt, als sie in einem Blog für die BBC die Gräuel der pakistanischen Taliban beschrieb. Sie setzte sich für die Schulbildung von Mädchen ein. Als sie 15 Jahre alt war, überfielen Extremisten ihren Schulbus und schossen ihr in den Kopf, da sie ein Symbol der Ungläubigkeit sei, wie ein Sprecher der pakistanischen Taliban erklärte. Sie überlebte nur mit viel Glück.