Lange war es ruhig um den ehemaligen CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber (73). Bis sich der frühere Kanzlerkandidat in der Flüchtlingsdebatte zu Wort meldete. «Die Muslime gehören zu Deutschland, nicht der Islam», sagte Stoiber in «Bild» als Reaktion auf die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Islam sei «Teil von Deutschland». «Der Islam ist kein Kernbestand der deutschen Kultur und prägt auch nicht unsere Geistesgeschichte und Tradition.»
Doch jetzt geraten die Behauptungen des Bayers unter Beschuss. «Stoibers Aussagen entstammen einem veralteten Kulturbegriff, der eigentlich seit den 1960er Jahren überholt ist», sagt Werner Schiffauer, Vorsitzender des deutschen Rats für Migration. «Dabei wird davon ausgegangen, dass es in jeder Kultur Kernelemente gibt, die über die Zeit hin stabil sind. Man vergisst dann aber, dass es ‹eine deutsche Kultur› nie gab. Die hat sich entwickelt. Calvinisten aus Holland oder Juden wurden zunächst heftig abgelehnt - heute werden sie selbstverständlich als Teil der Gesellschaft gesehen.»
«Altbekannte rechtskonservative Position»
Kulturen seien immer auch von Neuankömmlingen geprägt, sagt der Kulturwissenschaftler, der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder (D) lehrt. «Aus wissenschaftlicher Sicht kann man darum nur sagen: Stoibers Aussagen sind absoluter Blödsinn.» Dass eine Religion, der ein substanzieller Teil deutscher Staatsbürger angehören, nicht zu Deutschland gehören soll, «ist für mich rational nicht nachvollziehbar. Diese Leute sind hier und bleiben hier».
Ist es denn nicht verständlich, dass die zu erwartende Menge an Flüchtlingen aus muslimischen Ländern in Teilen der Bevölkerung Ängste schürt? «Es ist die altbekannte rechtskonservative Position: Dass eine Nation auf gemeinsamen Normen und Werten gründet, die Solidarität garantieren sollen. Die Angst dahinter ist dann, dass wegen der neuen Einflüsse von aussen entstehende Konflikte nicht mehr gelöst werden können.» Eine Angst, die unbegründet sei. «In den letzten Jahren sind Hunderttausende Südeuropäer nach Deutschland eingewandert – ohne, dass grosses Aufhebens darum gemacht worden wäre. Und ohne, dass die Nation in ihren Grundfesten erschüttert worden wäre.«
«Stoiber ist in der Minderheit»
Vor allem gehe in Stoibers Argumentation aber eines vergessen: «Unter den Menschen, die jetzt nach Deutschland fliehen, sind viele, die damals den arabischen Frühling losgetreten haben. Die sich aktiv für demokratische Werte eingesetzt haben. Sie sind es, die in Syrien vom Assad-Regime besonders stark verfolgt werden. Diesen Menschen zu unterstellen, dass sie nicht in der Lage sind, sich in unsere Gesellschaft einzufügen, halte ich für absurd.»
Schiffauer sieht in der aktuellen Situation aber auch eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. «Stoiber ist mit seinen Ansichten in der Minderheit. Die Bürgergesellschaft beschäftigt sich mit dem Thema. Aber sie tut es aktiv und konstruktiv. Im Moment beobachten wir bei Medien und Bürgern die Haltung: ‹Da kommen Probleme auf uns zu - aber wäre ja gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden.› Es gibt einen Grundoptimismus. Der mag in den nächsten Monaten vielleicht wieder Rückschläge erleiden. Aber man versteckt sich nicht mehr in einer Angststarre hinter dem Staat. Es ist derzeit vielmehr der Staat, der bremst.»