Es ist ein Drama, wie man es nur von der Leinwand kennt. Da ist der perfekte Protagonist: Mohammed bin Salman, jung, reich, machthungrig, bekannt unter dem Kürzel MbS. Da ist der perfekte Aufstieg: Mit 33 Jahren hat MbS ein Königreich an sich gerissen, mehrere Prinzen festnehmen lassen, einen ausländischen Regierungschef entführt, einen Krieg angezettelt – und sich gleichzeitig vom Westen als Reformer feiern lassen.
Und da ist dieser alles andere als perfekte Mord: Am 2. Oktober verschwindet im saudischen Konsulat in Istanbul der Journalist Jamal Khashoggi. Die brutalen Umstände seines Todes kommen ans Tageslicht – Detail um Detail. Gefoltert und zerstückelt habe man ihn. Immer mehr verstrickt sich die saudische Regierung in Widersprüche, immer wahrscheinlicher wird es, dass der Kronprinz darin involviert ist. MbS, der bislang nur den Aufstieg kannte, droht der grosse Absturz.
Wer den Protagonisten dieses Dramas verstehen will, muss erst einen Blick auf die Geschichte seines Landes werfen. Das moderne Königreich entsteht 1932 durch die Feldzüge von Abd al-Aziz ibn Saud, der sich zum ersten König von Saudi-Arabien krönt. Er öffnet das Land der westlichen Ölproduktion und findet in den USA einen Verbündeten. Öl gegen Sicherheit – der Deal gilt bis heute. Nach dem Tod des Staatsgründers wird das Königreich nacheinander von sechs seiner Söhne regiert. Wichtig ist dabei: Die Macht geht nicht von einem Sohn auf dessen Sohn über, sondern auf einen der Brüder. Keine Blutslinie soll die anderen dominieren.
Die Brüder gehen aus
Das System funktioniert – bis die Brüder langsam ausgehen. Der letzte, der an die Macht kommt, ist Salman bin Abdulaziz, der Vater von MbS. Als er 2015 König wird, ist er bereits 79 Jahre alt. Wer soll auf ihn folgen? Theoretisch haben Hunderte Prinzen aus der Generation der Enkel einen Anspruch auf den Thron. Um seinem eigenen Sohn eine gute Ausgangslage zu verschaffen, macht König Salman MbS zum Chef des Hofes, zum Verteidigungsminister, später auch zum Vizekronprinzen. «Er gilt als extrem korrupt, raffgierig und arrogant», schreibt die deutsche Zeitung «Die Zeit» über den Aufsteiger. «Niemand in den politischen oder diplomatischen Kreisen Saudi-Arabiens weiss irgendetwas Positives über den neuen starken Mann zu sagen.»
Dass sein Weg ein besonderer sein wird, zeigt sich früh. «Ich habe sofort gesehen, dass aus ihm mehr wird als ein stiller Berater des Königs», sagt Joseph Westphal, ehemaliger US-Botschafter in Saudi-Arabien, dem amerikanischen Magazin «The New Yorker». Bereits als Teenager habe er an wichtigen Sitzungen teilgenommen, sich fleissig Notizen gemacht. Er sei aufmerksam, intelligent und äusserst ehrgeizig, sagen einstige Wegbegleiter. Gleichzeitig habe er schon als Jugendlicher seinen Status missbraucht, um an Geld zu kommen. Innert Wochen bekommt er von Geschäftsleuten 30 Millionen Dollar für seinen Investmentfonds – keiner wagt es, den Sohn des Salman abzuweisen. Und damit nicht genug: Als sich ein saudischer Beamter weigert, dem jungen MbS ein Grundstück zuzuschreiben, bekommt er von ihm einen Briefumschlag mit Pistolenkugeln zugestellt. Abu Rasasa nennen sie den Prinzen fortan: Vater der Kugeln. Die Geschichte sei erfunden, sagen die saudischen Behörden. Ein langjähriger Freund von MbS beteuert gegenüber dem «New Yorker», dass sie der Wahrheit entspricht.
Aufgewachsen im Luxus
Unbestritten ist, dass der Prinz im Luxus aufwächst, in einem Haus mit fünfzig Angestellten, verwöhnt von einem Vater, dessen Liebling er ist. Mit 29 Jahren gilt er bereits als einer der mächtigsten Männer im Königreich. Doch das reicht ihm nicht.
Noch steht MbS ein Mann vor der Sonne: Mohammed bin Nayef, Neffe des Königs und als Kronprinz erster Anwärter auf den Thron. Ob König Salman jemals die Absicht hatte, bin Nayef zum König zu machen, ist umstritten. Klar ist, dass er seinem Neffen im Juni 2017 in den Rücken fällt und den eigenen Sohn zum Kronprinzen ernennt. Vordergründig verläuft die Machtübergabe friedlich, in Wahrheit aber soll bin Nayef in der Nacht zuvor unter körperlichen Schmerzen zum Rücktritt gezwungen worden sein.
Ende 2017 ist MbS nicht nur Kronprinz und Favorit auf den Königsthron, er kontrolliert auch die Polizei, die Nationalgarde, die Armee und führt als Vize-Premierminister des immer schwächer werdenden Königs de facto das Land. Noch nie hat ein saudischer Prinz so viel Macht auf sich vereint.
Seine Rhetorik, die ambitiösen Reformpläne und eine gut geölte PR-Maschinerie machen MbS zu einem Shootingstar im Westen. Im April 2018 trifft er in den USA nicht nur Präsident Trump, sondern auch Wirtschaftsgrössen wie den Apple-Chef Tim Cook, Bill Gates oder die Google-Gründer. Begeistert portieren die Medien den jungen Reformer, der sein Land in eine bessere Zukunft führt. Wer ihn persönlich trifft, erzählt von einem höflichen Mann mit Charme, der einem das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein. MbS gilt als moderner Saudi, will die Macht der religiösen Führer einschränken, ermöglicht den Frauen das Autofahren und spricht sich offiziell gegen Polygamie sowie religiösen Extremismus aus. Im Rahmen seiner Vision 2030 will er zudem die saudische Wirtschaft diversifizieren, teilprivatisieren und aus der Abhängigkeit vom Erdöl befreien. Das weckt Begehrlichkeiten – auch in der Schweiz.
Auch die Schweizer pilgern zum Hof
2017 reisen verschiedene Wirtschaftsdelegationen nach Saudi-Arabien, mit dabei sind etwa Economiesuisse-Chef Heinz Karrer, alt Bundesrätin Ruth Metzler oder Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann. Letzterer wird in Jeddah von Adel bin Muhammad Fakeih empfangen, dem Minister für Wirtschaft und Planung. Ebendieser Fakeih wird nur vier Monate später von MbSs Männern abgeholt und mit zweihundert anderen Mächtigen im Nobelhotel Ritz-Carlton in Riad eingesperrt. Unter ihnen: hochrangige Prinzen sowie Mutaib bin Abdullah, ein Anwärter auf den Königsthron. Die Gefangenen werden befragt und erst entlassen, nachdem sie der Regierung eine hohe Summe überwiesen haben. Mutaib verliert zudem seinen Posten als Chef der Nationalgarde. Offiziell dient die Aktion dem Kampf gegen die Korruption, Experten halten zwei andere Motive für möglich: Geldbeschaffung und Machterhaltung.
Es ist nur eine Episode von vielen, die eine andere Seite des Kronprinzen zeigen – eine, die man im Westen gerne verdrängt: die des skrupellosen Führers.
Bereits 2015, nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt als Verteidigungsminister, interveniert MbS an der Spitze einer Koalition in Jemen und bringt dort den Konflikt zum Eskalieren. In Riad rechnet man mit einem kurzen Einsatz. Stand heute hat der Krieg mindestens 10 000 Tote gefordert und die aktuell schlimmste humanitäre Krise der Welt ausgelöst.
Der Prinz entführt einen Regierungschef
Nach seiner Machtergreifung geht MbS systematisch gegen Gruppierungen und Personen vor, die ihm und seiner Herrschaft gefährlich werden könnten. Er lässt Kleriker, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten verhaften.
Im November 2017 wird der libanesische Regierungschef Saad Hariri von MbSs Leuten entführt und geschlagen. Erst nachdem er sichtlich erschöpft vor laufenden Kameras seinen Rücktritt bekannt gegeben hat, kommt Hariri frei. Später widerruft er die Aussagen.
Im Mai 2018 beginnt MbS einen Wirtschaftskrieg gegen Katar, das er der Terrorfinanzierung und der Kooperation mit Iran, dem saudischen Todfeind, bezichtigt. Die Blockade verfehlt weitgehend ihre Ziele.
Für all diese Handlungen wird MbS weder im In- noch im Ausland sanktioniert. Insgesamt überwiegt die Ansicht, dass die Alternativen zu ihm noch schlimmer wären. Die ausbleibenden Konsequenzen, so heisst es, ermutigen MbS zusätzlich. Ghanem al-Dosari, saudischer Satiriker im Exil, sagt es so: «MbS denkt, dass er machen kann, was er will, und mit allem durchkommt. Sogar auf internationalem Boden.»
Gerüchte über die Suche nach einem Nachfolger
Ob das auch nach dem Mord an Jamal Khashoggi so bleibt, ist unklar. Die Reaktionen aus dem Ausland sind deutlich kritischer ausgefallen als in der Vergangenheit. Deutschland kündigte an, vorerst keine Waffen mehr an Saudi-Arabien zu liefern. Zahlreiche Wirtschaftsführer – unter ihnen die CEOs der Schweizer Firmen ABB und Credit Suisse – sagten ihre Teilnahme an einer bedeutenden Investorenkonferenz in Riad ab. Und sogar US-Präsident Trump, dessen Schwiegersohn Jared Kushner beste Beziehungen zu MbS unterhält, nimmt den Kronprinzen nicht mehr pauschal in Schutz. Es gibt Gerüchte über die Suche nach einem Nachfolger.
Doch auch wenn der König und die Unterstützer im Ausland MbS tatsächlich absetzen möchten, bliebe unklar, wie und ob sich das ohne Blutvergiessen realisieren liesse. Die wichtigsten Positionen im Land hat der Kronprinz längst mit seinen Leuten besetzt. Und wenn er etwas bewiesen hat in diesem Drama, dann dies: Um seine Macht zu erhalten, ist er zu allem bereit.