SonntagsBlick: So wie andere Jugendliche einen Popstar anhimmeln oder einen Fussballclub verehren – so intensiv befasste sich Ali David Sonboly (18), der am Freitag zum Mörder von München wurde, mit Amokläufern.
In seinem Zimmer fanden Ermittler nebst Zeitungsartikeln zum Massenmörder Anders Behring Breivik auch ein Exemplar des Fachbuchs «Amok im Kopf: Warum Schüler töten». Der Psychologe Peter Langman porträtiert darin zehn Amokläufer, die in US-Schulmassakern 74 Menschen getötet haben. Mit seiner umfassenden Recherche wollte Langman künftige Amokläufe verhindern. Bei Ali David Sonboly dürfte das Buch die gegenteilige Wirkung entfaltet haben. Im SonntagsBlick-Interview analysiert Klaus Hurrelmann, Autor des Vorworts zu «Amok im Kopf», den Amoklauf von München.
Hat es Sie überrascht, dass «Amok im Kopf» bei Ali David Sonboly gefunden wurde?
Ja, das erstaunt mich sehr.
Was ist die Quintessenz von «Amok im Kopf»?
Dass alle Schul-Amokläufer eine Persönlichkeitsstörung schwersten Grades hatten. Eine zerstörte Persönlichkeit. Dieser Befund wurde in Fachkreisen intensiv diskutiert. Früher dachte man, das Umfeld spiele bei Amoktätern die entscheidende Rolle. Heute wissen wir, dass die zerstörte Persönlichkeit die Grundlage solcher Gewaltexzesse ist. Die Familiensituation, die Freunde, die schulische Belastung – all dies kommt dann noch hinzu. Der dritte Faktor ist, dass eine Waffe verfügbar sein muss.
Was glauben Sie, warum hat der Amokläufer von München dieses Buch gelesen?
Diese Täter befinden sich in einer Wahnwelt. Sie fantasieren. Und sie suchen nach einer Person, die ihnen gleicht. Ich vermute, der Täter von München hat in diesem Buch Leidensgenossen getroffen. Diese Amokläufer waren seine Vorbilder.
Hat ihn das Buch sogar zum Massenmord inspiriert?
Das ist denkbar.
Er hat auch mit Anders Behring Breivik sympathisiert. Nun mordete Sonboly am Jahrestag von Breiviks Massaker. Wie deuten Sie das?
Breivik dürfte für ihn ein Idol gewesen sein.
Der Täter von München befand sich in psychiatrischer Behandlung. Hätte diese Tat verhindert werden können?
Davon gehe ich aus. Fast alle Schul-Amokläufer in Deutschland und den USA befanden sich vor der Tat in Behandlung. Und jeder Amokläufer sendet vor der Tat Signale aus. Die muss man erkennen und richtig deuten können. Eine solche Tat hat ja eine lange Vorbereitungszeit. Mindestens einige Tage, teils sogar mehrere Wochen.
Wie sehen diese Signale aus?
Rückzug, kritische Äusserungen, Aggressionsdrohungen. Oft gibt es auch Vorankündigungen der Tat. Aber für normale Menschen, die mit dem Täter vertraut sind, ist es schwierig. Man kennt den Täter und nimmt die Signale nicht ernst.
Europa erlebt eine Welle der Gewalt. Haben die Attentate von Nizza und Würzburg Ali David Sonboly angestachelt?
Das ist gut möglich. Viele Amoktäter studieren andere Taten und orientieren sich an ihnen.
Jung, männlich, zornig: Dieses Profil verbindet islamistische Terroristen und Schulamokläufer. Zufall?
Nein. Ich glaube, dass alle diese Täter primär an einer schweren Persönlichkeitsstörung leiden. Beim sogenannten islamistischen Terrorismus sind die religiösen Motive oft nur vorgeschoben. Nizza ist so ein Beispiel. Täter wollen ihrem Amoklauf einen politischen Anstrich geben. Das eigentliche Motiv ist aber kein politisches oder religiöses, sondern eine völlig kaputte Persönlichkeit, die nicht mehr mit dieser Welt zurechtkommt.
Muss das Buch «Amok im Kopf» vom Markt genommen werden?
Wir müssen schon darüber nachdenken, ob dieses Buch missbraucht werden kann. Wir werden das sicher auch mit dem Verlag anschauen.