Trachtenfrauen singen ukrainische und kosakische Soldatenlieder. Gemeindeangestellte stehen Spalier. Und die Bürgermeisterin hält eine euphorische Rede. Mittendrin ein Appenzeller, der in der Ukraine gefeiert wird, den das sichtlich berührt, und dem es doch unangenehm ist. Mit einer Schere durchtrennt Martin Huber (67) in Iwankiw ein blaues Band – und übergibt einer Familie ein Holzhaus, deren angestammtes Heim russische Soldaten zerstört hatten.
Es ist bereits das 100. Haus, das Huber in die flächenmässig grösste ukrainische Gemeinde liefert. Hundert Familien, die ihr Hab und Gut in Flammen aufgehen sahen, hat der Herisauer Unternehmer seit Beginn des russischen Angriffs ein neues Dach über dem Kopf gegeben. «Mögen Ihre guten Taten hundertfach vergolten werden», bedankt sich Bürgermeisterin Tetiana Svyrydenko bei einem Empfang.
«Dass es schon 100 sind, ist eine grosse Genugtuung», sagt Huber nach der Feier. «Aber dass sie mich feiern, das müsste nicht sein.» Es gehe um die Häuser, nicht um ihn. Er tue ja nur das, was alle tun würden: «Menschen das Notwendigste geben, damit es bei ihnen weitergeht.»
Ein Kenner Osteuropas
Diese Bescheidenheit spricht für ihn, ist aber falsch. Huber hat in den letzten zwei Jahren Aussergewöhnliches geleistet. Wohl kein anderer Schweizer hat in der Ukraine seit Kriegsbeginn mehr bewegt als er.
Huber kennt Osteuropa. Einst übernahm er von seinem Vater eine Fensterfirma in Herisau. In den 1990er-Jahren expandierte er nach Russland. Nach elf erfolgreichen Jahren verkaufte er die Firma in Moskau. Weil sein engster Mitarbeiter ein Ukrainer ist und in den Wäldern rund um die Stadt Winnyzja viele Eichen wachsen, zog er 2005 ins Nachbarland.
Aus dem harten Holz stellt er seither in einer eigenen Fabrik Fensterkanthölzer her, bringt sie nach Herisau, wo sie zu Fensterrahmen veredelt werden. Monteure bauen sie in Villen, Sportanlagen oder Gemeindehäuser ein. Auch die Fensterrahmen im neu renovierten Hauptbahnhof Zürich wurden von der Huber Fenster AG aus ukrainischer Eiche gefertigt.
Ukrainer lernen, ein Holzhaus zu bauen
Als Martin Huber im Frühling 2022 Fotos der russischen Zerstörung sah, beschloss er: «Da muss ich etwas tun.» Mit dem Bündner Holzunternehmer Enrico Uffer entwickelte er in Savognin GR ein einfaches, aber bequemes Holzhaus, holte ukrainische Handwerker in die Schweiz, wo sie lernten, es zu bauen (Blick berichtete). Und er gründete den Verein Ukraine Hilfe.
Im Juli 2022 kam das erste Haus per Lastwagen aus der Schweiz in das kriegsversehrte Land. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern zog ein. Die nächsten 99 Häuser liess Huber in seiner Fabrik bei Winnyzja bauen.
Seine Monteure lieferten sie nach Iwankiw. Hier, südlich von Tschernobyl, fielen die Russen im Winter 2022 aus Belarus ein. In wenigen Wochen zerstörten sie allein in Iwankiw 2385 Häuser. Aus der Luft mit Jets, Helikoptern, Drohnen und Raketen, vom Boden aus mit Kanonen und Panzern. Tausende Menschen wurden obdachlos.
Die Waffen sind in Iwankiw verstummt, die Russen zurückgedrängt. Aber die Wunden des Kriegs bei den Menschen nicht vernarbt.
Die Wunden sind nicht verheilt
Raisa Saiko (72) zeigt auf ihr Holzhaus. Sie hat in einer Fabrik für Einweggeschirr gearbeitet, zuletzt als stellvertretende Direktorin. «Das ist mein neues Daheim», sagt die Mutter zweier erwachsener Töchter – und bricht in Tränen aus. Es sind nicht nur Tränen der Freude. Am 25. Februar 2022 war ihr Enkel bei ihr, ein lebensfroher 14-jähriger Junge. Die Familie dachte, er sei auf dem Land sicherer als in der Hauptstadt Kiew.
Grossmutter Raisa stand neben ihm im Garten, als eine russische Drohne ihr Haus beschoss und Splitter den Jungen trafen. Das Haus brannte, der Enkel sackte in sich zusammen. Eine Ärztin lud ihn in ihr Auto und fuhr zum örtlichen Spital. Auf dem Weg dorthin schossen russische Soldaten auf den Wagen. Ärztin und Kind konnten nur noch tot aus dem Auto geborgen werden. «Dieser Tag hat mein Leben zerstört», sagt Raisa Saiko.
Sie fühlt sich mitschuldig, weil ihr Enkel in ihrer Obhut gestorben ist. «Meine Tochter besucht mich nicht mehr, es ist zu schwer für sie, dorthin zurückzukehren, wo sie ihr einziges Kind verloren hat.»
Psychologische Hilfe erhält sie nicht. Aber ukrainische Ermittler haben sie mehrmals befragt, um Beweise für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen zu sammeln.
Sie bezeichnet das Holzhaus des Schweizers als Wendepunkt in ihrem Leben. «Das Haus bedeutet mir alles», sagt sie und umarmt Huber. Draussen im Garten erntet sie Pflaumen, Kirschen und Birnen; die Obstbäume haben die russischen Angriffe überstanden.
Ihr verstorbener Mann war ein Russe gewesen, der Vater ihres Schwiegersohns ist Russe. «Beides gute Menschen, aber über Russen etwas Gutes zu sagen, das fällt mir schwer.»
Sie glaubt nicht, dass der Krieg bald endet. An der Front fehlen die Waffen, zu Hause die Männer. «Es ist fast unmöglich, einen Handwerker zu finden; alle Männer sind im Krieg.»
Eine Bürgermeisterin auf Mission
Knapp 29000 Menschen leben in Iwankiw. Die Gemeinde besteht aus verschiedenen Dörfern und ist mit 3600 Quadratkilometern etwas grösser als der Kanton Waadt. «Die Russen haben uns sehr viel genommen», sagt Bürgermeisterin Svyrydenko. «Was sie nicht mitnahmen, das haben sie zerstört.»
Wenige Monate vor Kriegsausbruch trat sie ihr Amt an und ist seither mit dem Wiederaufbau ihrer Gemeinde beschäftigt. Sie reist durch Europa und bittet um Hilfe. Im deutschen Sindelfingen fand sie Feuerwehrautos, die sie mitnehmen konnte. Doch ihr wichtigster Partner ist der Appenzeller Martin Huber. Er organisierte in der Schweiz für das örtliche Spital elektrische Betten. Und er hat geholfen, vier Busse der Zuger Verkehrsbetriebe herzuholen. Ein Fünfter soll bald folgen.
Das Herzstück sind die Holzhäuser. Die Nummern 101 und 102 sind bereits fertig. Für zehn weitere Häuser hat Huber noch Geld. Wenn er mehr auftreiben kann, baut er weiter.
Über drei Millionen Franken gesammelt
Der Bedarf ist gross. Sein ukrainischer Teilhaber Sergei Medvechuck ist vergangene Woche ins kriegsversehrte Cherson gereist und hat sich mit den örtlichen Behörden getroffen. Sie wollen so rasch wie möglich 1000 Holzhäuser haben.
Sollte es irgendwann Frieden geben, wird der Bedarf noch schneller steigen. Eine halbe Million neuer Wohnungen benötigt die Ukraine, obwohl seit Kriegsbeginn 6,5 Millionen Menschen das Land verlassen haben. «Wir könnten das Fünffache bauen, wenn es nötig wäre», sagt Huber, wohl wissend, dass selbst das bei weitem nicht reichen wird.
Sein Holzhaus besteht aus Schlaf- und Wohnzimmer mit Küche, dazu einem Bad und einem Vorraum mit Waschmaschine. Vier Personen können darin gut leben. Seit kurzem baut Huber auch ein kleineres Modell, ein Studio für Paare oder Einzelpersonen. Geplant ist ein zweistöckiges Gebäude, das als Ärztehaus für das Spital in Iwankiw dienen soll.
Durchschnittlich kostet ein Haus 30000 Franken. Martin und seine Frau Jacqueline Huber (65) haben dafür über drei Millionen Franken gesammelt, bei Stiftungen, privaten Spendern und Bekannten. Der Bund hat zwei Häuser finanziert – etwas knauserig, angesichts der fünf Milliarden Franken, die der Bundesrat für den Wiederaufbau der Ukraine ausgeben will. Trotzdem liess es sich Aussenminister Ignazio Cassis (63) nicht nehmen, eines der Häuser im Februar 2023 persönlich zu übergeben.
Nichts gesprochen hat die Glückskette, da der Verein Ukraine Hilfe kein zertifiziertes Hilfswerk ist. Was Huber nicht sein möchte. Zu gross wäre der administrative Aufwand. Huber macht nicht die hohle Hand, er macht einfach. Die ganze Koordination liegt bei ihm und seiner Frau. «Wir verrechnen nichts für unsere Arbeit», sagt er. «Das Geld, das reinkommt, geht zu 100 Prozent in die Häuser, ins Material und die Löhne in der Ukraine.»Einen Teil der Administration übernimmt die Huber Fenster AG, die heute seine drei Söhne führen.
Ein vergleichbar erfolgreiches Schweizer Projekt gibt es nicht. Warum gelingt ihm, was viele andere nicht schaffen? «Es ist sicher ein Vorteil, dass ich die Ukraine kenne», sagt er. «Ein solches Projekt würde ich in einem mir unbekannten Land nicht wagen.»
Ein Handwerker liefert 100 Häuser aus
Für den Bau der Häuser hat Huber in der Ukraine vier seiner 60 Angestellten abgestellt. Dazu zwei bis drei Personen, die sie von Winnyzja ins 300 Kilometer entfernte Iwankiw fahren und dort montieren. Der 39-jährige Monteur Pavel Medvedchuk hat alle 100 Häuser aufgestellt, sie an die Familien übergeben und die Papiere unterschreiben lassen. Als er die Häuser auslieferte, lernte er die Bewohner kennen und hörte ihre Geschichten. «Alle diese Familien haben grosse Ängste gelitten», sagt er. «Sie haben in wenigen Augenblicken alles verloren.» Und er sieht, «wie mein kleiner Beitrag ihnen etwas Freunde bereitet».
Das Holzhaus ist ein schweizerisches Produkt. Die sanitären Anlagen stellt Geberit in einem ukrainischen Werk her, die Spanplatten Swiss Chrono ebenfalls in der Ukraine. Ein Schreiner aus dem Dorf richtet die Küchen ein, ein lokaler Sanitär die WCs und Duschen.
Huber steigt aus dem Auto, mit dem er die 2000 Kilometer von Herisau nach Iwankiw gefahren ist, und geht auf ein kleines Holzhaus zu. Davor sitzt Halina Kostjutschenko (77), sie war lange die Bibliothekarin der Gemeinde. Es wimmelt von Mücken. Deshalb hat sie sich mit Vanillesalbe eingecremt, das hält die Biester fern. Versengter Schutt liegt herum: Reste ihres Hauses, in dem sie 35 Jahre lang gelebt hat. Russische Helikopterpiloten beschossen es mit Raketen. Ihr Haus und das Nachbarhaus verbrannten mit 4000 Büchern der Bibliothekarin.
Zwei Jahre lebte sie bei ihrem Sohn in Ushgorod an der ungarischen Grenze. Am 17. März 2024 erhielt sie das Schweizer Haus. «Endlich fühle ich mich wieder zu Hause», sagt sie. Angst hat sie immer noch. Sie fürchtet, dass ihre Söhne eingezogen werden. Zwei ihrer Enkel seien bereits an der Front verwundet worden. Sie hat noch einen Wunsch: «Ich möchte das Ende des Krieges erleben.»
Huber überreicht ihr eine Schachtel Ragusa. Wann immer möglich besucht er die Bewohner seiner Häuser. «Wir können nicht nachempfinden, was diese Menschen erlebt haben. Ihre ganze Existenz wurde ihnen genommen. Da bin ich einfach froh, wenn ich ihnen das Nötigste geben kann, ein eigenes Haus, in dem sie leben können.»
Der gute Mann aus Herisau vollbringt Wunder
Dieser Zurückhaltung widerspricht Tetjana Didkowski (57). Sie bewohnt Haus Nummer 100. «Das Haus ist ein Wunder», sagt die Krankenpflegerin. Zusammen mit ihrem Mann Wiktor (60) und ihrer Tochter hat sie zwei Jahre im Stall gewohnt. Die Russen hatten ihr Haus mit Panzern beschossen. Sie konnten sich gerade noch in einen Keller retten. Alles, was sie nicht am Leib trugen, verbrannte.
Als sich herumsprach, dass ein guter Mann aus Herisau hölzerne Häuser nach Iwankiw bringt, meldete sich Tetjana Didkowski bei der Bürgermeisterin. Ein halbes Jahr später konnte sie einziehen, nächste Woche schliessen die Gemeindearbeiter den Strom und das Wasser an.
Der Krieg habe die Ukraine verändert, betont sie. «Wir haben verstanden, dass wir einander helfen müssen.» Ihre Eltern hätten ihr erzählt, dass im Zweiten Weltkrieg sogar die Deutschen menschlicher gewesen seien als jetzt die Russen. Die Deutschen hätten ihrer Mutter etwas zu essen gegeben. «Aber die Russen sind grausam, sie wollen uns alle und unsere Nation vernichten.» Ihr Vater sei ein Russe gewesen. «Jetzt gibt es diese Nation für uns nicht mehr.»
Huber lässt die Häuser aus ukrainischem Kiefern- und Lärchenholz fertigen. Holz, das über Jahrzehnte in der Ukraine herangewachsen war und das er ersetzen möchte. Er drängte Iwankiws Bürgermeister erfolgreich dazu, 13 Hektar Landwirtschaftsland umzuzonen und 100000 Bäume zu pflanzen. Die Setzlinge bezahlte Hubers ukrainische Firma.
Doch noch eine Kindheit für Nikka
Nikka war drei Jahre alt, als die Russen ihr Haus zerstörten, und sie damit ihrer Kindheit beraubten.
Jetzt ist sie fünf und sitzt im Kinderzimmer. An die Wand hat sie das kyrillische Alphabet gekritzelt, nach den Sommerferien kommt sie in die Schule und übt schon jetzt die Buchstaben. Ihre Mutter Anastasia Pospischna (27) serviert dem Gast aus der Kaffee und Kekse. Ihr Mann Illya (33) ist Soldat und liegt verletzt im Spital. Weil alles ein bisschen viel ist, hat sie ihre 16 Monate alte Tochter Alisa zu den Grosseltern gebracht.
Alisa ist in Spanien geboren. Dorthin war Anastasia Pospischna nach dem russischen Überfall geflohen. Als das Baby vier Monate alt war, kehrte die Familie in die Ukraine zurück. «Wir hatten Heimweh – und Illya sollte endlich seine zweite Tochter sehen.»
Sie kam mit den Kindern bei der Schwiegermutter unter und sah eines von Hubers Holzhäusern. Einen Monat später bekam sie selbst ein Haus. Mit zwei kleinen Kindern rückte sie auf der Warteliste ganz nach oben. «Das Haus hat uns das Leben zurückgegeben», sagt sie.
Nikka zeigt auf ihr Puppenhaus auf dem Regal und die Stofftiere auf ihrem Bett. Dann eilt sie nach draussen und spielt mit ihrem Dackel. «Mikki», ruft sie ihn und lacht.
Nikka hat ihre Kindheit zurück. Auch dank Hubers Holzhaus.