Das Bild des toten Aylan Kurdi († 3) an einem türkischen Strand erschütterte die Welt. Der Bub stammte aus Kobane in Syrien. In Syrien sterben jeden Tag Kinder wie Aylan. Die Welt kennt sie nicht. Seit über vier Jahren wird dort gekämpft. Anzeichen für einen baldigen Frieden gibt es leider nicht.
Ich bin seit fünf Jahren als humanitäre Helferin in Syrien. Die EU-Minister treffen sich dieser Tage zu Gesprächen über die «Migranten»-Krise in Europa. Sie sollten wissen, dass die Menschen, die aus Syrien geflohen sind, einen Grund dafür hatten.
Seit Kriegsbeginn starben in Syrien über 220'000 Menschen. Über zwölf Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Knapp vier Millionen Menschen haben das Land verlassen. Tausende machen die gefährliche Überfahrt auf dem Meer. Einige schaffen es. Andere nicht – so wie Aylan Kurdi.
Letzten Monat überschritten Kollegen des Syrischen Roten Halbmonds (SARC) und ich eine Kampflinie im Osten der Stadt Aleppo, wo verschiedene bewaffnete Gruppen operieren. Wir besuchten Krankenstationen, wo mutiges Personal Verletzte und Kranke mit wenig Material behandelt. Wir besuchten Bäckereien, in denen jedes Gramm Mehl sorgfältig abgewogen wird. Wir sahen, wie nah am Abgrund diese Menschen leben.
In Syrien kämpft die Menschheit ums Überleben. Es gibt Gebiete, die belagert sind. Dort können keine Hilfsgüter hingeliefert werden. Aber dort werden Babys geboren, und ihre Mütter haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Als Kriegswaffe wird das Wasser zurückgehalten. Die Wirtschaft befindet sich in einer verzweifelten Notlage.
Grosse Gebiete Syriens sind abhängig von externer Hilfe. Monat für Monat erhalten Millionen Menschen Essen und andere Hilfe vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dem SARC und anderen humanitären Organisationen.
Wenn sich Menschen aus Syrien entschliessen, ihr Land zu verlassen, nennen einige sie Flüchtlinge. Andere sagen, sie seien Migranten. Das Etikett ist unwichtig. Diese Menschen brauchen nur ein Mindestmass an Würde und Unterstützung, um ihr Leben in fremden Gefilden wieder aufzubauen.
Niemand, der bei Verstand ist, riskiert sein Leben, geht auf einen Weg voller Gefahren und Ungewissheit. Wenn die Menschen aber keinen Schutz finden vor dem Krieg, solange ihr Leben nur ein Überleben ist, muss die Welt bereit und vorbereitet sein, weitere Tausende Menschen aus Syrien aufzunehmen.
Dieser Konflikt ist zur schwerwiegendsten Tragödie unserer Zeit geworden. Der Respekt vor dem Leben eines Menschen hat seine Bedeutung verloren. Das vergossene Blut und die Grausamkeiten versetzen uns zurück ins Mittelalter.
Politisches Handeln braucht Zeit. Es ist jedoch ein humanitärer Imperativ, dass alle Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch erhalten. Alle Kriegsparteien müssen diese Hilfe schützen. Wenn sie das Leben der Menschen nicht retten, bringt es nichts, wenn sie Politik spielen – für ein leeres, zerstörtes und verlassenes Stück Land.
Dieser Artikel erschien am 13. September 2015 bei der Thomson-Reuters-Stiftung.