Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (67) hat die Russland-Politik Deutschlands während ihrer 16-jährigen Amtszeit vehement verteidigt. Eine Entschuldigung für den teils als zu nachsichtig gegenüber der Führung in Moskau kritisierte Kurs lehnte sie am Dienstagabend in Berlin in ihrem ersten grossen Live-Interview mit «Spiegel»-Autor Alexander Osang auf der Bühne des Berliner Ensembles seit dem Ausscheiden aus dem Amt ab.
Sie macht klar: «Ich mache mir keine Vorwürfe.» Und weiter: «Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen.»
«Brutaler, Völkerrecht missachtender Überfall»
Merkel verurteilte den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf. «Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt.» Der Angriff sei von Russlands Seite ein grosser Fehler.
Es sei nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die den Krieg verhindert hätte, sagte Merkel. Es sei nicht gelungen, den Kalten Krieg zu beenden. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) sei der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhundert gewesen – das habe er ihr gegenüber mehrfach geäussert. Merkel sagte, sie habe entgegnet, für sie sei das ein Glück gewesen.
Merkel zu Krim-Annexion
Merkel räumte ein, dass man der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim durch Russland 2014 zwar härter hätte begegnen können. Man könne aber auch nicht sagen, dass damals nichts gemacht worden sei.
Sie verwies auf den Ausschluss Russlands aus der Gruppe führender Industrienationen (G8) und den Beschluss der Nato, dass jedes Land zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben soll. Sie sei nicht «blauäugig» im Umgang mit Russland gewesen.
Auch dass sie sich 2008 gegen eine Nato-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt habe, verteidigte Merkel. Hätte die Nato den beiden Ländern damals eine Beitrittsperspektive gegeben, hätte Putin schon damals einen «Riesenschaden in der Ukraine anrichten können», sagte sie.
Müsse sich nicht vorwerfen, «zu wenig versucht zu haben»
Es sei so, «dass ich mir nicht vorwerfen muss, ich hab es zu wenig versucht», sagte Merkel zu der Frage, inwieweit sie dazu beitragen konnte, eine Eskalation mit Russland zu verhindern. «Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht. Es ist eine grosse Trauer, dass es nicht gelungen ist.»
Merkel machte aber deutlich, es sei im Interesse Deutschlands, einen «modus vivendi» mit Russland zu finden – so, dass beide Länder koexistieren könnten.
Um eine Vermittlung in dem Konflikt sei sie nicht gefragt worden, sagte die ehemalige Kanzlerin. Und: «Ich habe nicht den Eindruck, dass das im Augenblick etwas nützt.» Es gebe aus ihrer Sicht «wenig zu besprechen.» (euc/SDA)