Eins, zwei, drei, vier, fünf. So viele Krankenwagen zählt Nikolaj T.* während eines kurzen Telefonats vor seinem Balkon in Moskau. «Die Welle hat uns noch voll im Griff», sagt der russische Journalist, der für einen unabhängigen Fernsehsender arbeitet, zu BLICK. «Ich kann es kaum glauben, dass sie das Land ab dem 11. Mai wieder langsam öffnen wollen.»
Seit einem Monat arbeitet Nikolaj T. von zu Hause aus, das Land ist seither im Lockdown. An der Virus-Front explodieren die Zahlen der Infizierten dennoch, zuletzt gab es nach offiziellen Angaben um die 10'000 neue Fälle täglich. Offiziell sind es 155'370 Fälle am Dienstagmittag – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. In der Hauptstadt Moskau allein könnten bereits eine Viertelmillion Menschen infiziert sein, vermutet der Bürgermeister am Samstag. Am Sonntag gaben die Behörden die Anzahl der Fälle für Moskau dennoch mit 68'606 an.
In Moskau lässt der Bürgermeister die Strassenbahnen jeden Tag gleich mehrfach desinfizieren – obwohl sie kaum noch jemand nutzt. Ein PR-Stunt, der kaum von den langen Schlangen vor den Krankenhäusern ablenkt. In der Hauptstadt allein könnte die Krise bis zu eine Viertelmillion Infizierte fordern.
Experten beobachten bei Putin «Realitätsverlust»
Mit den Infektionszahlen wächst auch die Kritik an Wladimir Putin (67). Gross inszenierte der russische Präsident Hilfslieferungen für Italien und die USA, liess aber für das eigene Land keine Corona-Strategie erkennen. Seine Gouverneure fühlen sich vom Kreml im Stich gelassen. Seit Wochen delegiert Putin unbeliebte Entscheidungen an sie.
Und er macht Fehler. Lange hielt der russische Präsident trotz Corona an der Volksabstimmung über die Verfassungsänderung fest, die ihm den Verbleib an der Macht sichert. Obwohl er sie formell nicht braucht, wollte er unbedingt die Zustimmung der Bevölkerung dafür.
Der Politologe Andrej Perzew von der Moskauer Denkfabrik Carnegie Center attestiert Putin «Realitätsverlust» – nicht zuletzt, weil Putin unlängst meinte, dass 70 Prozent der Russen zur Mittelschicht gehörten. Wer 17'000 Rubel (rund 200 Euro) im Monat verdiene, erfülle das Kriterium.
«Putins Botschaft ist: Wir stehen das durch»
Während westliche Regierungschefs wie Trump, Johnson und Macron vom «Krieg» gegen das Virus sprechen, bleibt der nationale Anführer, wie Putin in Russland offiziell genannt wird, ungewöhnlich kleinlaut. Wenig erinnert an den Putin, der schon mit sibirischen Kranichen am Himmel flog, der sich mit nacktem Oberkörper oder als siegender Judoka – also immer wieder als eine Art Supermann – in Szene setzen liess.
«Putins Sprache ist nicht so martialisch, wie man es erwarten würde», beobachtet ETH-Forscher Benno Zogg. «Seine Botschaft ist: Wir stehen das durch. Unser Gesundheitssystem kann das.» Doch daran haben die Russen Zweifel. Aus dem Gesundheitswesen häuften sich zuletzt Berichte über Ärzte und medizinisches Personal, die kaum Schutzausrüstung haben und bisweilen an Covid-19 sterben. Drei Ärzte haben sich laut Medienberichten aus Verzweiflung bereits aus dem Fenster gestürzt.
Das alles passt nicht in das von den Staatsmedien gezeichnete Bild, dass Russland alles im Griff habe. In einer Videobotschaft zum Osterfest zeigte sich Putin vor einem Kamin bei Kuchen und Tee mit dem Standardsatz: «Alles wird gut.» Und das, während die sozialen Netzwerke von Posts verzweifelter Menschen wimmeln, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Putins Beliebtheit sinkt, wie Umfrageinstitute ermittelten. Proteststimmung macht sich breit – im Internet natürlich, weil Versammlungen verboten sind.
Das System Putin bietet keine Alternativen
Wackelt Putin? «Kurzfristig nicht», sagt ETH-Forscher Zogg. «Das Bemerkenswerte am putinschen System ist: Das hat er jetzt über 20 Jahre aufgebaut, es gibt keine Alternative zu ihm.» Seit 2000 ist Putin bereits an der Macht. Im Parlament gibt es keine grössere Partei, die ihm gefährlich werden könnte. Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny (43), der in der Corona-Krise Soforthilfe für die russischen Bürger fordert, ist in den ländlichen Regionen kaum bekannt.
Gefährlicher als unzufriedene Bürger könnten Putin jedoch langfristig andere werden, sagt Zogg: die Gouverneure, die Chefs grosser Firmen, die Oligarchen. Corona schwäche ihn innerhalb des Systems. «Die muss Putin eigentlich bei Laune halten.» Das ausgerechnet sein Premierminister Michail Mischustin (54), der erst seit vier Monaten im Amt ist, infiziert ist, werfe ein schlechtes Licht auf Putins machtpolitisches Spiel.
Auch die Moskauer Denkfabrik Carnegie Center sieht Risse im System Putin. Der Carnegie-Experte Andrej Kolesnikow sagt, dass die politische Krise in Russland nun wichtiger werde, als die wirtschaftliche. Auch der ungeschriebene Sozialpakt, wonach der Kreml sich um das Wohlergehen der Menschen kümmere und sich im Gegenzug darauf verlasse, dass sich die Bürger aus der Politik raushielten, habe sich totgelaufen. In der Corona-Krise geht es für viele in Russland nunmehr um das Überleben.
* Name geändert
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.