Inmitten der prekären humanitären Lage im nordafghanischen Kundus hat die US-Armee für weiteres Leid gesorgt: Heute Nacht wurden bei einem Luftangriff auf ein Spital von «Ärzte ohne Grenzen» mindestens 19 Menschen getötet. Es handle sich um zwölf Mitarbeiter der Hilfsorganisation und sieben Patienten, darunter auch drei Kinder. Weitere 37 Menschen - 19 Spitalmitarbeiter und 18 Patienten sowie Angehörige - seien zum Teil lebensgefährlich verletzt worden, teilte Christiane Winje, die Sprecherin der Hilfsorganisation, heute in Berlin mit. Viele andere würden noch vermisst.
Zum Zeitpunkt des Luftangriffs hätten sich 185 Menschen im Gebäude aufgehalten. Demnach handelte es sich um 105 Patienten und Angehörige sowie mehr als 80 internationale und einheimische Mitarbeiter. Die afghanische und die US-Armee sollen nach einem ersten Einschlag informiert worden sein - trotzdem dauerte der Beschuss offenbar eine halbe Stunde an. Das Spitalgebäude stand nach dem Angriff in Flammen.
Eine «entsetzliche Tragödie»
Der Sprecher der Nato-Mission in Afghanistan, Sernando Estreooa, erklärte dazu: «Die US-Streitkräfte haben am 3. Oktober um 2.15 Uhr Ortszeit einen Luftangriff nahe der Einrichtung durchgeführt, wo einzelne Personen die Truppen bedrohten.» Dabei sei womöglich eine nahe gelegene Klinik beschädigt worden, es war die Rede von einem möglichen «Kollateralschaden». Der Vorfall werde untersucht.
Das afghanische Verteidigungsministerium erklärte hingegen, «eine Gruppe von Terroristen mit leichten und schweren Waffen» sei im Spital gewesen.
Die Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen» zeigte sich «zutiefst schockiert». «Wir fordern alle Konfliktparteien auf, die Sicherheit von Gesundheitseinrichtungen und Personal zu respektieren», hiess es in einer Mitteilung. Die genaue Lage des Spitals mit GPS-Koordinaten sei an alle Konfliktparteien kommuniziert worden, auch an Kabul und Washington. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sprach von einer «entsetzlichen Tragödie».
«Taliban haben Kundus infiltriert»
Kundus war am Montag von den radikalislamischen Taliban erobert worden. Die Armee startete eine Gegenoffensive und meldete am Freitag die Rückeroberung der Stadt. Mindestens 60 Menschen sollen bislang getötet und etwa 400 weitere verletzt worden sein. Nach Angaben der Klinik wurden seit Anfang Woche 394 Verletzte behandelt.
Der bekannte Taliban-Experte Jürgen Todenhöfer erklärte im Interview mit Blick.ch, wie es überhaupt zur feindlichen Übernahme durch die Taliban kommen konnte. «Das ist eine ganz abenteuerliche Geschichte. Bereits vor vier Wochen haben mehrere hundert afghanische und pakistanische Taliban die Stadt infiltriert. Sie haben bei Freunden, Bekannten und anderen Unterstützern gewohnt», sagt er.
«Möglich machten das einige Dorfmilizen, die allerdings von der Regierung bezahlt werden – die haben die Taliban reingelassen. Als die Taliban den entsprechenden Befehl bekommen haben, gaben sie sich zu erkennen und haben die Stadt übernommen. Ein raffinierter, listiger Plan.» (lex/kab/SDA)