Sie hat keine feste Wohnadresse, verbringt Wochen auf einem Schiff. Doch schlecht geschlafen hat Europas bekannteste Seenotretterin ausgerechnet in einem Luxushotel. «Ich verstehe auch nicht, warum man mir immer so was bucht», sagt Carola Rackete, die mit ihrem Buch «Handeln statt hoffen» gerade auf Tour ist. An der Nobeladresse am Zürcher Lindenhof fühlt sich die 31-Jährige sichtlich unwohl. Also gehts zum Gespräch mit SonntagsBlick in die Langstrasse. Im alternativen Kulturhaus Kosmos gibts für die bekannteste Seenotretterin Europas Kaffee mit Hafermilch.
Sie sind die Flüchtlingskapitänin, die sich mit Italiens Rechtsaussen Matteo Salvini anlegte. Ihr Gesicht prangte auf der Titelseite aller Zeitungen in Europa. Wie gehen Sie damit um?
Carola Rackete: Seit der Aktion ist eine mediale Figur geschaffen worden, die gar nicht so viel mit mir zu tun hat. Ich bin froh, dass die Leute langsam verstehen, dass ich nicht nur Seenotrettung mache. Die löst ja auch nicht das Kernproblem, warum Leute überhaupt migrieren.
In Ihrem Buch schreiben Sie, das Kernproblem sei der Klimawandel.
Die Geflüchteten, die wir im Mittelmeer aufsammeln, haben mehrere Gründe, warum sie ihr Land verlassen. Zwischen «Vertreibung» und «freiwilliger Migration» liegt die ganze erzwungene Migration. Wenn die Temperaturbewegungen in der Sahelzone zum Beispiel zu immer mehr Dürren führen und sich Menschen nicht mehr von ihrem Ertrag ernähren können. Wer vier Jahre in Folge schlechte Ernten hat und wegzieht – ist das jetzt ein Wirtschafts- oder ein Klimaflüchtling? Ich sehe das so: Die aktuelle Gesetzgebung reicht nicht aus, um diese Menschen zu schützen. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist veraltet.
Sie würden alle aufnehmen?
Wie man das im Detail organisiert, finde ich schwierig zu sagen. Die Menschen im globalen Süden wollen auch lieber, dass der Ort, an dem sie leben, von den Industrienationen nicht zerstört wird. Migration ist nur ihre Adaptionsstrategie, um zu überleben.
Die einen feiern Sie als Heldin, andere werfen Ihnen Schlepperei vor. Dabei wollten Sie gar nicht auf der Sea-Watch sein.
Ich mache Seenotrettung nur, weils kein anderer tut. Es gibt viele andere Dinge, die ich lieber machen würde.
Was denn?
Naturschutz. Ich war Bäume pflanzen in Schottland, als Sea-Watch anrief: Der Kapitän sei ausgefallen, aber die Crew sei da, das Schiff stehe bereit. Ich stand auf deren Notfallkontaktliste. Mir war klar, dass sie niemand anderen finden werden, der innerhalb von drei Tagen da ist und drei Wochen Zeit hat.
Haben Sie das bereut?
Nein. Wir haben 53 Menschen davor bewahrt, dass sie ertrunken sind oder nach Libyen gebracht wurden.
Wo leben Sie eigentlich – und wovon?
Ich lebe tatsächlich aus dem Rucksack. Ich hab eine ganze Weile in der Seefahrt gearbeitet, hatte aber nie eine Wohnung und hab mein Geld auf ein Konto gelegt. Das brauche ich jetzt auf.
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Wenn schwer zu sagen ist, wo die Welt in fünf oder zehn Jahren steht, dann kann ich erst recht nicht sagen, wo ich dann bin. Wobei ich annehme, dass ich weiterhin eine Kombination aus wissenschaftlicher Arbeit und Naturschutzarbeit mache und mich politisch engagiere.
Würden Sie sich trauen, Kinder in diese Welt zu setzen?
Ich wollte noch nie Kinder. Aber ich kann meine Freunde verstehen, die jetzt davor zurückschrecken.
Es gibt eine Bewegung, die «AntinatalistInnen», die keine Kinder wollen, um den CO2-Ausstoss zu senken.
Das finde ich zu kurz gedacht. Das Problem ist die Gesellschaft, die ums Kind herumsteht und ihm beibringt, wie es leben und konsumieren muss.
Wenn alle so leben würden wie Sie und Greta Thunberg, hätten wir also keine Probleme.
Das glaube ich nicht. Das ist ein strukturelles Problem. Man kann natürlich eigene Konsumentscheidungen treffen, weniger oder anders zu konsumieren. Aber es muss sich an unserer Ressourcennutzung als Gesellschaft was ändern.
Dann fordern Sie doch Verzicht.
Die Industrienationen müssen ihren Ressourcenkonsum runterbringen, damit die Ressourcen woanders genutzt werden können.
Wie wollen Sie die Klimakrise aufhalten?
Wir brauchen eine Demokratisierung. Wir haben zum Beispiel ein Problem mit Konzern- und Lobbyinteressen, die sehr verflochten sind mit unseren Parlamentsentscheidungen.
Welche Klimasünde leisten Sie sich?
Ich fliege nach Santiago de Chile, dort hätte ja eigentlich der Klimagipfel stattfinden sollen. In den letzten fünf Monaten bin ich fast 25'000 Kilometer mit dem Zug gefahren. Dieser eine Flug wird jetzt nicht das Weltklima zerstören. Und er macht mich auch nicht weniger glaubwürdig.