Kinder wollen, dass wir mit ihnen über den Terror reden
Verheimlicht uns nichts!

Was macht so viele mediale Gewalt mit Kindern? Was sagen wir ihnen? Eines ist klar: Der Terror macht auch vor ihnen nicht Halt.
Publiziert: 17.07.2016 um 20:10 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 18:27 Uhr
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Ein Mädchen betrachtet Andenken an die Opfer von Nizza.
Foto: Getty Images
Peter Hossli

Kinder lesen solche Schlagzeilen: «Terrorwaffe LKW». So titelte am Freitag der Blick am Abend. Dazu: «Über 80 Tote bei Amokfahrt in Nizza». Später berichtet das Fernsehen über viele tote Kinder. «Was ist ein Putsch?», fragt meine Tochter Sofia*. Es läuft «10 vor 10». Im September wird sie zwölf. Von Männern, die sich in die Luft sprengen, hat Sofia oft gehört. Von Amerikanern, die an Schulen auf Schüler schiessen. Von Terroristen, die in Bistros töten.

Doch ein Lastwagen, der Kinder totfährt, und ein Putsch am selben Tag? Das ist neu. Wie erleben Kinder so viel Gewalt in den Medien? Was sagen wir ihnen? «Ich will nicht, dass du uns etwas verheimlichst, wir erfahren sowieso alles», meint Sofia. Sie wolle «auch wissen, was mir mega Angst machen könnte, dann reden wir offen darüber – verschweigen ist einfach nur blöd». Nichts packe sie und viele ihrer Freundinnen derzeit mehr als der Terror in den Medien. «Das ist doch interessanter als Bundesräte oder Manager, das geschieht in der Welt, das andere nur in der Schweiz.»

Sofias Schwester Isabel* wird bald neun. «Marie* geht mit mir zur Schule, sie ist Französin, sie hat den 14. Juli gefeiert, mit ihr habe ich über Nizza geredet», sagt Isabel. «Mit der Lehrerin reden wir nicht darüber, es gibt kein Fach, wo das Platz hätte, auf dem Pausenplatz sprechen viele Kinder über Terror.»

Isabel will alles erfahren. «Kinder, die nichts wissen, haben es vielleicht einfacher», sagt sie. Ihre Freundin Nicole* etwa «weiss nicht einmal, was ein Terroranschlag ist», erzählt Isabel. Immerhin: «Sie muss sich keine Gedanken machen, sie hat weniger Angst als ich, weil ich es ja weiss.»

Albträume wegen Brüssel

Kinder hören im Radio vom Terror, lesen in Zeitungen darüber, auf dem iPhone. Die ständige Präsenz belastet sie. «Angst habe ich immer dann, wenn ein neuer Anschlag vermeldet wird», so Sofia. «Tun kann ich dagegen nichts.»

Für Michael* (11) war der zweite Anschlag in Paris, jener im November 2015, der bisher schlimmste. «Zuvor passierte ja lange nichts, dann gab es in einer Nacht plötzlich sehr viele Tote. Das war noch neu. Was in Nizza geschah, erlebte ich als alltäglich.»
Eine erschütternde Aussage. Stumpfen Kinder ab, wie wir Erwachsene? «Es ist schon noch schlimm, aber man muss auch sehen: Terror ist eine Realität geworden», sagt Michael. Nach den Sommerferien kommt er in die 6. Klasse.

Sofia sieht es ähnlich. Sie geht im August ins Gymnasium. Ihre Klasse führte unlängst ein Theaterstück über das Leben in 25 Jahren auf. Terror ist auf der Bühne allgegenwärtig: «Terror gehört heutzutage zur Welt wie früher die Hungersnot.»
Es verfolgt sie im Schlaf. «Der Anschlag von Brüssel hat mich belastet», sagt sie. «Danach habe ich vom IS geträumt, er griff unsere Familie an, wir konnten uns befreien.» Michael erzählt, wie er nachts schon aufgewacht sei, weil er dachte, dass ihn ein Terrorist holt.

Gleichwohl will er nicht geschont werden. «Passiert etwas, müssen meine Eltern mit mir darüber reden.» Über den Ort des Terrors, die Zahl der Toten, die Art des Anschlags. «Aber Einzelheiten sind mir nicht so wichtig.» Leichen wolle er nie sehen. An der Schule sei Terror das «Gesprächsthema Nummer eins», sagt Michael. «Mich interessiert das noch mehr als Sport.»

«Ein Mensch ist ein Mensch.»

Michael geht zum Vater. Er wolle alles erfahren, «um in Alarmbereitschaft zu sein, damit ich gefährliche Orte meiden kann». Weniger drastisch sieht es Isabel: «Wissen nimmt Angst. So weiss ich, dass in der Schweiz nicht jeder Waffen kaufen kann, dass man aus den USA nicht einfach Waffen herbringen darf.» «Nein», sagt sie, «es ist nicht trauriger, wenn ein Kind stirbt, es ist auch traurig, wenn ein Mann oder eine Frau stirbt.» Nicht das Alter, nicht Nationen seien wichtig, sondern Menschen. «Es ist blöd, wenn Medien zuerst darüber berichten, wie viele Schweizer tot sind», sagt Sofia. «Ein Mensch ist ein Mensch.»

Erstaunlich, wie abgeklärt Zürcher Kinder über den Terror reden. Isabel, die Achtjährige: «Anschläge auf Flughäfen und Bahnhöfe sind viel schlimmer, das kann man nicht verstehen. Die Attacke auf ‹Charlie Hebdo› war ganz gezielt, das begreift man.» Etwas finde sie «tollpatschig», so Isabel. «Terroristen sprengen sich in die Luft und glauben, es im Himmel dann schön zu haben. Uns finden sie ganz schlecht. Warum töten sie uns denn? Dann hätten wir es ja gut im Himmel.»
Wer so denkt, hat ein Recht darauf, alles zu erfahren. 

* Die Kinder, die hier reden, leben in Zürich. Ihre Namen sind geändert.

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