An seinem einzig freien Tag in der Woche steht Suhail (30) um 4 Uhr früh auf, packt seine Cricketausrüstung und fährt zu einer Kiesbrache im Industriegebiet. Kurz vor 6 Uhr, das Thermometer liegt noch knapp unter 30 Grad, das Licht ist weich und diesig, steht er bereits verschwitzt auf einem improvisierten Spielfeld.
Freitag ist in Katar arbeitsfrei – und Spieltag. Die Arbeiter aus Sri Lanka haben eine Cricketliga gegründet, um ihrem Nationalsport zu frönen. Abschalten, loslassen, Energie tanken für die nächste Arbeitswoche. Landsmänner allesamt, man bleibt meist unter sich, es ist ihre Ersatzfamilie hier.
Suhail kam vor fünf Jahren nach Doha. Er arbeitet als Buchhalter und hat einen vergleichsweise guten Job. Er verdient 10’000 Ryal pro Monat, umgerechnet 2700 Franken. Das ist zehnmal so viel wie der staatlich festgelegte Mindestlohn von 1000 Ryal, von dem die meisten Arbeitsmigranten hier leben. «Wir sind nur da, um Geld zu verdienen. Hier werden wir besser bezahlt als zu Hause», sagt Suhail. «Das ist der Grund, warum wir unsere Familie und Verwandten in der Heimat zurücklassen.» Ein Grossteil ihres Einkommens schicken sie nach Hause.
Hunderte Busse bringen Arbeiter auf Baustellen
Seine Freunde hier sind Baustellenarbeiter, Sicherheitsleute, Bürodiener, Putzkräfte. Sie bauen Türme im Stadtzentrum und Strassen, liefern Essen aus, fahren Taxi. In den vergangenen zehn Jahren haben die Arbeiter für die Fussball-WM acht Stadien errichtet. Arbeiten, die Katarer nicht ausüben.
Die meistens Arbeiter schuften sechs Tagen die Woche, zwischen zehn und zwölf Stunden. Sie arbeiten Tag und Nacht, oft bei brutaler Hitze. Nicht weit weg vom Cricketfeld entfernt gibt es eine riesige Parzelle, darauf stehen Hunderte Busse. Sie fahren die Arbeiter zu Schichtbeginn auf die Baustellen und bringen sie nach der Schicht zurück in die Unterkünfte.
Die Arbeitsmigranten machen laut Uno-Angaben 88 Prozent der Einwohner von Katar aus, das Land hat die höchste Quote an Arbeitsmigranten weltweit. Mit ihnen offiziell zu sprechen, ist in Katar unerwünscht. Für alles braucht man als Journalist in Katar eine Genehmigung, hierfür erhält man – auch nach zahlreichen Anfragen – keine.
Das hat mit der Arbeitssituation dieser Migranten zu tun. Menschenrechtsorganisationen beschreiben sie als prekär. Sie werfen Katar vor, die Arbeiter auszubeuten. Viele starben auf den Baustellen. Offizielle Stellen sprechen von ein paar Dutzend, Menschenrechtsorganisationen von mehreren Tausend Toten – allein während der Bauarbeiten für die WM-Infrastruktur. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Golfstaaten wurde das Kafala-System eingeführt. Kafala ist arabisch und lässt sich mit Bürgschaft oder Garantie übersetzen. Dabei sind die Arbeiter abhängig von ihren Arbeitgebern und können nur mit deren Zustimmung die Stelle wechseln oder ausreisen.
Katarische Zweiklassengesellschaft
Katar hat dieses System zwar offiziell abgeschafft und eine Reihe von Reformen eingeführt, etwa den Mindestlohn. Das Gesetz sieht zudem vor, dass Arbeitgeber Zulagen in Höhe von mindestens 300 bzw. 500 Ryal zur Deckung der Kosten für Verpflegung und Unterkunft bezahlen müssen, wenn sie diese Leistungen nicht direkt zur Verfügung stellen. Amnesty International kam im «Reality Check 2021», einer Analyse zur Arbeitsreform in Katar, allerdings zum Schluss, dass die Fortschritte stagniert haben und alte missbräuchliche Praktiken wieder aufgetaucht sind. Etwa monatelang ausstehende Lohnzahlungen. Erst am vergangenen Wochenende berichtete zudem die Nachrichtenagentur Reuters, dass die katarischen Behörden mehrere Tausend Arbeiter aus ihren Unterkünften verbannt habe.
Wer Gastarbeiter, die überhaupt mit Journalisten sprechen, diesbezüglich befragt, bekommt ausschliesslich Positives zu hören. Es ist schwierig abzuschätzen, ob das tatsächlich der Wahrheit entspricht oder bloss der Versuch ist, nicht aufzufallen. «Die Katarer behandeln uns nicht schlecht», sagt der Ghanaer Isaac (34). Er arbeitet seit drei Jahren als Kundendienstleister für die Doha Metro und sagt: «Ich jage hier nur dem Geld hinterher, erhalte eine Unterkunft und dreimal täglich etwas zu essen.» Probleme gebe es nur, wenn man die Regeln hier nicht befolgt. «Wir sind frei, aber wir haben Angst vor einer Ausweisung. Niemand will Gesetze brechen. Denn sonst bist du von heute auf morgen weg», so Isaac. Und Suhail sagt: «Ich arbeite in einem angenehmen Arbeitsumfeld, wir werden respektiert.»
«Nur hier, um Geld zu verdienen»
Tatsächlich aber gibt es in Katar eine Zweiklassengesellschaft: Den 300’000 katarischen Staatsbürgern, sie sind eine Minderheit im eigenen Land, geht es finanziell gut. Sie bezahlen keine Steuern, das Gesundheitssystem, Strom, Wasser und Bildung sind gratis. Alle haben das Recht auf einen gesicherten Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit gibt es in Katar praktisch keine. Ausländer können die katarische Staatsbürgerschaft kaum je erhalten – selbst wer über 40 Jahre in Katar lebt, nicht. Wie Mounir Nassif (65).
Nassif kam 1977 aus dem Libanon nach Doha. Er eröffnete eine kleine Konditorei und nannte sie «Patisserie Suisse». Mit der Schweiz hat sie allerdings nichts zu tun. Nassif verkauft Kuchen und Süssigkeiten aus dem Nahen Osten. Er sagt: «Die Schweiz steht für Qualität, darum heissen meine Läden so.» Heute hat er zwölf Filialen und 280 Angestellte – alles Arbeitsmigranten.
Mounir Nassif sitzt im fensterlosen Büro an seinem Hauptsitz und hat den gütigen Blick eines Grossvaters. «Diese Leute – auch ich – sind bloss hier, um Geld zu verdienen. Das ist ein Kinderspiel, wenn man die zwei wichtigsten Regeln befolgt.» Damit meint er: Mische dich nicht in die Politik ein und konsumiere keine Drogen.
Seine Angestellten würden zum Teil sieben Tage arbeiten, erzählt er. Damit sie keine Zeit hätten, Geld auszugeben und möglichst viel nach Hause schicken können. Als Arbeitgeber ist er verpflichtet, ihnen auch eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Sie hausen in von ihm gemieteten Zimmern, zu viert auf 42 Quadratmetern, und bleiben in der Regel für zwei Jahre. So lange ist das Arbeitsvisum gültig.
Als Unternehmer muss Nassif zehn Prozent Steuern auf den Jahresumsatz bezahlen. Seine Firma gehört ihm nur zu 49 Prozent. Denn: Jedes ausländische Unternehmen muss per Gesetz zu mindestens 51 Prozent in katarischem Besitz sein. «Die Katarer arbeiten nicht mit den Händen», sagt er und lächelt. «Sie sind vor allem Chefs.» Und doch gehört Nassif zu den wenigen Gutverdienenden unter den über zwei Millionen Ausländern in Katar. Er zeigt Bilder seiner Villa im Libanon und Filmchen von seinem Hobby, der Jagd. Eben ist er aus den langen Ferien in seiner Heimat zurückgekehrt.
Auf Ferien muss Suhail noch bis kommendes Jahr warten. Er und seine Freunde reisen höchstens einmal im Jahr für ein paar Wochen nach Sri Lanka. Was bis dahin bleibt, ist ihre Sehnsucht nach der alten Heimat, nach Familie und vielleicht einem Profi-Cricket-Match im Stadion.