Das sei die klare Erwartung an London, wiederholte EU-Kommissionssprecher Eric Mamer am Dienstag in Brüssel nach dem ersten Votum für das Binnenmarktgesetz im britischen Unterhaus. Die Gefahr eines harten Bruchs beider Seiten zum Jahresende wirkt inzwischen sehr real. Es bleiben gerade noch vier Wochen, um den Crash zu stoppen.
Der Brexit-Deal steht – eigentlich
Die Endlosgeschichte des Brexits ist so verworren, dass man sich kurz erinnern muss: Grossbritannien ist Ende Januar aus der EU ausgetreten, und zwar auf Grundlage eines vereinbarten und ratifizierten Vertrags, der unter anderem eine Übergangsfrist bis Ende 2020 vorsieht. Vor allem aber steht darin eine Lösung zur Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, die den brüchigen Frieden auf der Insel gefährden würden.
Was will Johnson jetzt am Brexit-Vertrag ändern?
Dieses «Nordirland-Protokoll» galt damals als «Quadratur des Kreises». Und genau diesen Punkt will der britische Premierminister Boris Johnson mit dem Binnenmarktgesetz aufbohren. Es würde vertraglich vereinbarte Sonderregeln für Nordirland aushebeln, die verhindern, dass britische Güter unkontrolliert und zollfrei über die irische Grenze in die EU strömen. So werden Zollerklärungen fällig für Güter, die vom britischen Festland ins britische Nordirland kommen. Für diese sollen auch scharfe Subventionsregeln gelten.
Johnson klagt, das britische Nordirland könnte so vom Rest des Landes abgekoppelt und quasi der Willkür der EU ausgesetzt werden. Zusätzlich führt der Regierungschef an, dass die EU britische Lebensmittelexporte nach Nordirland stoppen könnte. Das hat nicht direkt mit dem Austrittsvertrag zu tun, sondern mit den Handelsbeziehungen ab 2021. Die EU muss Grossbritannien bescheinigen, dass die dortigen Lebensmittel EU-Standards entsprechen und somit weiter in der Europäischen Union verkauft werden dürfen.
Obwohl das als Formsache galt, steht der Schritt noch aus. Grossbritannien habe noch nicht die nötigen Informationen geliefert, so EU-Unterhändler Michel Barnier. Johnson kritisiert das drastisch: Die EU habe «diesen Revolver noch immer nicht vom Tisch genommen».
Mitte Oktober droht harter Bruch
Womit wir bei den Verhandlungen über den nächsten Vertrag wären: den angestrebten Handelspakt für die Zeit nach Ablauf der Übergangsfrist, wenn Grossbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet. Er soll bis Mitte Oktober fertig sein - ansonsten droht ein harter Bruch mit Zöllen und hohen Handelshürden. Johnson sagte, sein Gesetzesplan mache eine Einigung beim Handelspakt wahrscheinlicher.
Äh, nein, heisst es dazu in Brüssel. «Johnson wird kein vertrauenswürdiger Partner dadurch, dass er einen Vertrag, den er gerade geschlossen hat, wieder bricht», sagte ein EU-Diplomat am Dienstag. Wenn Grossbritannien ein Handelsabkommen wolle, müsse es den Plan zum Bruch des Brexit-Vertrags zurückziehen. Einen Verstoss gegen internationales Recht - und den hat die britische Regierung sogar selbst eingeräumt - könne die EU nicht durchgehen lassen.
EU hält sich zurück
Die EU-Kommission hatte deshalb schon vorige Woche die britische Regierung aufgefordert, die Pläne spätestens bis Ende September zurückzuziehen. Dass sie den Ball erstmal flach hält, hat zwei Gründe: Sie will nicht die Verantwortung für einen harten Bruch. Und sie fürchtet, dass in Irland ohne Einigung mit London im schlimmsten Fall eben doch Warenkontrollen nötig wären. Der irische Aussenminister Simon Coveney nannte das britische Vorgehen «schockierend».
Von der Leyen sieht Chancen auf Abkommen schwinden
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hält ein Handelsabkommen mit Grossbritannien zum Ende der Brexit-Übergangsphase für immer weniger wahrscheinlich. «Mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass wir doch noch rechtzeitig ein Abkommen erzielen», sagte von der Leyen am Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union. Die Gespräche seien nicht so weit wie erhofft, und es bleibe nur noch sehr wenig Zeit.
Von der Leyen protestierte gegen Pläne des britischen Premierministers Boris Johnson, Teile des bereits gültigen Brexit-Abkommens mit einem neuen britischen «Binnenmarktgesetz» auszuhebeln. Das Abkommen sei auch vom britischen Parlament ratifiziert. «Es kann nicht einseitig geändert oder missachtet oder ignoriert werden», sagte von der Leyen. «Es geht hier um Recht, um Vertrauen und um guten Glauben.» Vertrauen sei das Fundament jeder starken Partnerschaft.
Grossbritannien streitet über Vertragsbruch
In Grossbritannien wiederum wird der geplante Vertragsbruch hitzig debattiert, auch vor der Abstimmung am Montagabend im Unterhaus. «Was für ein gescheitertes Regieren!», empörte sich der Abgeordnete der oppositionelle Labour-Partei, Ed Miliband. Das Binnenmarktgesetz nahm dann zwar am späten Abend die erste Hürde im Parlament mit 340 zu 263 Stimmen. Doch gaben 30 Abgeordnete von Johnsons konservativer Partei ihre Stimme nicht ab. Zwei Konservative, Roger Gale und Andrew Percy, stimmten gegen das Gesetz. «Ich bin nicht überrascht, dass ich zu einer kleinen Minderheit gehöre», sagte Gale der BBC. «Ich denke, das könnte sich am kommenden Dienstag ändern.»
Dann wird über einen Änderungsantrag abgestimmt, der entscheidend sein könnte. Damit will eine Gruppe um den Konservativen Bob Neill erreichen, dass die Massnahmen des Binnenmarktgesetzes nur im absoluten Notfall zum Einsatz kommen. Den müsste die Regierung dem Parlament detailliert erklären und die Abgeordneten abstimmen lassen.
Kommt es wieder zum Schlagabtausch im Parlament?
Wie viele konservative Rebellen werden nächste Woche wohl ihrem Regierungschef die Stirn bieten? Johnson verfügt über eine Mehrheit von 80 Stimmen im Unterhaus. Der Gesetzesentwurf muss aber auch das Oberhaus passieren, aus dem bereits scharfe Kritik zu hören war. Kommt es zu einem Ping-Pong-Spiel zwischen Unter- und Oberhaus, könnte sich das über Wochen hinziehen.
Grossbritannien droht zweite Corona-Welle
Brexit hin, Brexit her: Es gibt noch ein gravierendes Problem, mit dem die britische Regierung zu kämpfen hat. Eine zweite gewaltige Coronavirus-Welle erfasst das Land, warnen Regierungsexperten. Die Infektionszahlen schnellen bereits in die Höhe. Johnson, der selbst nach einer Corona-Infektion auf einer Intensivstation um sein Leben kämpfte, hatte auf die erste Welle zu spät und falsch reagiert. Die Regierung scheint das Problem nicht in den Griff zu kriegen. Es mangelt wieder erheblich an Corona-Tests; viele Kliniken sagen wichtige Operationen ab, wie britische Medien am Dienstag berichteten. Experten rechnen mit Chaos im Herbst - das sich mit einer weiteren Zuspitzung des Brexit-Streits überlappen könnte. (SDA)