Die Szene ist erst eine Woche alt. Schon jetzt steht fest: Sie geht in die Geschichte ein.
Popp, Popp, Popp. Drei dumpfe Schüsse. Damit fängt es an. Donald Trump steht auf dem Podium in Pennsylvania (USA). Auf den Aufnahmen, die um die Welt gingen, sieht man, wie er sich ans Ohr greift. Die Leute im Publikum schreien auf. Trump fällt zu Boden. Wieder Schüsse. Wieder Schreie. Gleich darauf werfen sich Security-Leute auf den früheren Präsidenten. Sie richten ihn auf, machen ihre Schultern breit, umschlingen mit den Armen seinen Körper. Sie wollen ihn von der Bühne schaffen. Er blutet am Ohr, das Blut ist inzwischen über seine Wange geronnen.
Doch Trump weiss selbst im Schock um diesen Moment, um die Kraft, die darin liegt. Er sagt zu den Personenschützern: «Wait – wait – wait!» Dann richtet er sich auf, streckt seine geballte Faust in die Luft und ruft mit wutverzerrtem Gesicht und nur Sekunden, nachdem ihn jemand ermorden wollte: «Fight, fight, fight!» Die Menge jubelt: «USA, USA, USA!» Trump will nicht als Opfer von dieser Bühne gehen. Und seine Rechnung geht auf.
Sofort schreiben seine Getreuen am Drama, dessen Auftakt sich vor aller Augen abgespielt hat, fleissig mit. Sie unterfüttern es mit Gott.
Tochter Ivanka Trump (42) sagte kurz darauf, sie glaube, dass ihre verstorbene Mutter während des Attentats über Trump gewacht habe. Für den Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson (52), ist klar: «GOTT hat Präsident Trump gestern beschützt.» Andere Politiker berufen sich auch auf den Allmächtigen und bezeichnen den Vorfall als «Wunder». Posten auf X eine Illustration eines Engels, der Trump von der Kugel ablenkt. Bald heisst es: Trump habe seinen Kopf in jenem Moment nicht zufällig so weit gedreht, dass die Kugel ihn nur gestreift habe. Göttliche Fügung.
Die Medien spinnen die Bekundungen weiter: Trump wird zum «living martyr» (zu Deutsch: «lebender Märtyrer») stilisiert, sein Überleben zum «near-miss into martyrdom» (zu Deutsch: «Beinahe-Märtyrertod»), das Attentat zum «martyr moment» (zu Deutsch: «Märtyrer-Moment»).
Und immer mehr Menschen tragen nun an seinen Veranstaltungen wie Trump ein weisses Ohrpflaster.
Verfolgt, von Gott begünstigt: Plötzlich ist Donald Trump der neue Heilsbringer, der für die Sache seiner Anhänger fast sein Leben gegeben haben soll.
Noch im Mai war er der erste Ex-Präsident in der US-Geschichte, der strafrechtlich angeklagt und wegen Betrugs verurteilt wurde. Im Zuge der Affäre mit dem Pornostar Stormy Daniels (45) hatte er Schweigegelder an sie in seinen Geschäftsbüchern als Anwaltskosten verschleiert. Schon in den 80er- und 90er-Jahren fütterte er das Boulevardblatt «New York Post» persönlich mit Details seiner Seitensprünge, das in der berühmten Schlagzeile «Best Sex I've Ever Had» gipfelte – und zur Scheidung mit seiner Frau Ivana beitrug. Du hast richtig gelesen: Ivankas Mutter, die über ihn gewacht haben soll.
Märtyrermythos entfaltet grosse Kraft
Der gleiche Mann gilt nun als Märtyrer – wie ist das möglich? Und was bringt ihm und seinen Getreuen das? Der Schweizer Religionswissenschaftler Baldassare Scolari weiss: Der Märtyrermythos wurzelt im Christentum. Er entfaltet eine unheimliche Kraft. Stiftet Identität. Mobilisiert Menschen. Bis heute. Aber: Es braucht die richtigen Zutaten. Und genau diese gibt es im Fall von Trump.
Ausgangspunkt sind die altgriechischen Worte «mártys» (Zeuge) und «martýrion» (Zeugnis). Der Märtyrer legt mit seinem Körper Zeugnis ab. Mit seinem Blut. Was das heisst, zeigt ein Blick in die Geschichte. Zu den Anfängen des Martyriums. In die ersten Jahre des Christentums. Aus jener Zeit stammte der erste Märtyrer: Stephanus.
Stephanus führte Jahre nach dem Tod Jesu in Jerusalem die kleine christliche Urgemeinde. Inmitten der jüdischen Herrschaftsgemeinschaft. Stephanus kritisierte ihre Bräuche und predigte eifrig seinen Glauben. Juden schlossen sich ihm an. Und die Zahl der Feinde wuchs. Eines Tages musste er vor der jüdischen Volksversammlung antreten. Diese fand seine Thesen so empörend, dass «sie ihn zur Stadt hinaustrieben und ihn steinigten» – so steht es in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Doch, und das ist der Punkt: Stephanus starb laut dieser nicht, ohne Zeugnis für seinen Glauben abzulegen: «Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!» Und weiter sprach er, ähnlich wie zuvor Jesus: «Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!»
Der Tod von Stephanus im Jahr 35 markiert den Anfang der Christenverfolgung – und einer langen Reihe von Märtyrerinnen und Märtyrern. Vor allem die römischen Kaiser liessen unzählige Männer, Frauen und Kinder foltern, ans Kreuz schlagen, enthaupten, verbrennen, von wilden Tieren zerfleischen, in Bergwerken schuften und in Bordellen anschaffen. Die Christen wehrten sich nicht – so die biblische Erzählung. Weil sie an die Auferstehung Jesu glaubten, an den Sinn seines Leidens und sie mit ihrem Tod das alles bezeugen konnten. Im 4. Jahrhundert dann erlaubten die Römer das Christentum als Glaubensgemeinschaft. Das machte dem Morden erst mal ein Ende. Nicht aber dem Märtyrer-Tod.
Baldassare Scolari lehrt Medienforschung an der Berner Fachhochschule (BFH) und dissertierte zur Wirkungsmacht der Märtyrer in der Politik. Er sagt: «Jeder kann politisch und medial zur Märtyrerfigur ausgebaut werden, wenn es einen Akt politischer Gewalt gibt.» Auch da, wo es nicht mehr um Religion geht. Sondern um Nation. Um die Werte innerhalb eines Staatswesens.
Das Anschlagsopfer in der Badewanne
Ein Beispiel, so Scolari, ist die Französische Revolution. Am 13. Juli 1793 nahm der Journalist und umstrittene Revolutionsanhänger Jean-Paul Marat (1743–1793) in seiner Pariser Wohnung gerade ein Bad. Da stürzte eine Frau zur Tür herein und erstach ihn. Der berühmte Maler Jacques-Louis David (1748–1825) verewigte die Szene kurz darauf in einem stilisierten Gemälde: Marat blutend und tot in der Badewanne. Damit ging Marat als «Märtyrer der Revolution» in die Geschichte ein. Ähnlich politisch aufgeladen ist der Mord an Martin Luther King (1929–1968). Ein Mann erschoss ihn am 4. April 1968 in der Stadt Memphis (USA). Luther King gilt als Märtyrer im Kampf für die Rechte der Schwarzen.
Und nun Trump. Trump ist nicht tot. Doch, sagt Scolari: «Trump taugt sehr gut als Märtyrerfigur.» Folgende Kriterien erfüllt ein Märtyrermythos laut dem Religionswissenschaftler. Neben dem politischen Gewaltakt sind dies: eine Wahrheit – eine Idee, wofür die Figur Zeuge ist, also bereit ist, zu sterben. Und eine Gemeinschaft, für die der tote oder verletzte Märtyrer-Körper das Zeugnis dieser Wahrheit darstellt.
Scolari sagt: «Bei Trump steht MAGA für diese Wahrheit.» Schon im Wahlkampf 2016 setzte er auf den Slogan «Make America Great Again» (zu Deutsch: «Machen wir Amerika wieder grossartig»). Seither blickt er bei jeder Wahlveranstaltung auf ein Meer von roten MAGA-Caps. Eine ganze Bewegung ist dazu entstanden. Was die vier Worte genau bedeuten, ist unklar. Doch, so Scolari: «Sie stehen für ein Heilsversprechen.» Dieses sichert zu, eine idealisierte Vergangenheit wiederherzustellen. So wie das Paradies nach der Auferstehung Jesu für die Christen. Trump inszeniert sich als der Mann, der dafür sorgt, dass alles wieder gut wird.
Zur MAGA-Anhängerschaft gehören die abhängten, verarmten und wütenden Weissen, die die guten alten Zeiten herbeisehnen – die «angry white men». Trumps Immigrationspolitik, wirtschaftliche Abschottung und anti-woke Politik lassen keinen Zweifel übrig: In seinem imaginären MAGA-Land werden die Weissen wieder an der Spitze der Nahrungskette stehen. Zusammen mit der zweiten grossen Gruppe der Trump-Anhänger: den Evangelikalen.
Schätzungsweise 70 Millionen von ihnen gibt es in den USA. So viele, dass die MAGA-Bewegung eine eigene Bildsprache für sie entwickelt hat. Sie rückt den Ex-Präsidenten in die Nähe der ersten Christen, die die Römer den Löwen verfütterten. Trump selbst postete auf Facebook eine Zeichnung mit sich auf der Anklagebank und Jesus an der Seite, der ihm beisteht. Eine beliebte Devotionalie ist ein Shirt mit Jesus, der Trump von hinten die Hand auflegt. Doch am eindrücklichsten sind die Worte, die er gezielt am Tag nach dem Attentat auf seiner Plattform Truth Social wählte: «We will FEAR NOT.» Eine Anlehnung an das biblische «Fürchtet euch nicht!», mit dem der Engel die Geburt Jesu verkündet.
Engel, Jesus – all das zeigt: Bilder, Zeichnungen, Gemälde und Slogans sind in diesem Drama wichtig. Ohne Ikonografie kein Publikum. Kein Märtyrermythos. Das wussten die Christen schon früh. Sie waren Meister der Inszenierung. Sie schufen massenhaft Wandfresken in Kirchen, Halsketten-Amulette oder Votivtäfelchen für in der Hosentasche, die die blutrünstigen Sterbeszenen christlicher Märtyrer zeigen – und jahrhundertelang populär waren. Trump treibt das nun auf die Spitze. Was ihm hilft: das digitale Zeitalter, in dem ein Video oder ein Bild innert Sekunden ein Millionenpublikum erreicht.
Offen bleibt, was Trump der Märtyrer-Nimbus bringt. Schon jetzt beschert ihm dieser Bewunderung. Ähnlich wie bei den ersten Christen. Ihre Urgemeinde überlebte nur dank der Märtyrer. Mehr noch. Von Kirchenvater Tertullian (ca. 160–220) ist der Satz überliefert: «Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.» Ihre Tapferkeit beeindruckte immer mehr Menschen, die christlichen Gemeinden wuchsen explosionsartig. Die Folge: Im 4. Jahrhundert erhob der römische Kaiser Konstantin (ca. 280–337) das Christentum zur Staatsreligion.