Die vierspurige Autobahn über das Industrie- und Wohnviertel Polcevera war der ganze Stolz von Riccardo Morandi: So verwegen elegant schwangen sich seine drei Brücken aus Spannbeton über das Tal im Westen von Genua, dass eine von ihnen nach ihrem Erbauer benannt wurde.
Fast 51 Jahre lang erfüllte der Viadukt seine Dienste. Dann riss am vergangenen Dienstagmittag mindestens eines der Spannseile der Morandi-Brücke. «Wie ein Erdbeben» erlebte die Ärztin Valentina Galbusera die auch von den Verkehrskameras dokumentierten Sekunden, in denen ein fast 200 Meter langes Segment der Autobahn A10 einbrach.
Gut vierzig Meter tiefer begruben die Trümmer 41 mitgestürzte Reisende und ihre Autos, Passanten und Wohnhäuser unter sich. «Ich bleibe hier, bis sie meinen Sohn geborgen haben», schwört die Mutter des 31-jährigen Mirko Vicini, der als einziges Opfer noch vermisst wird.
Eine «rigorose Aufklärung» forderte Staatspräsident Sergio Mattarella während des Staatsbegräbnisses in den Genueser Messehallen am Samstag. Genau wie Kardinal Angelo Bagnasco, der in der San Lorenzo Kathedrale die Totenmesse las.
Der Anstand ist dahin
Aber das dürfte ein frommer Wunsch bleiben! Denn die Morandi-Trümmer haben auch Italiens letzten Rest an politischem Anstand zerstört.
Der zuständige Staatsanwalt erwartet langwierige Ermittlungen. Bisher, sagt Prof. Antonio Brencich von der einberufenen Untersuchungskommission, «ist das gerissene Stahlseil als Unglücksursache nur eine Hypothese.»
Doch für die in Rom regierenden Populisten stehen die Schuldigen bereits fest: Das Unternehmen «Autostrade per l‘Italia» hält die vom Staat vergebene Mautkonzession für die A10 und damit auch die Morandi-Brücke. «Autostrade» wiederum wird von der Holding «Gruppo Atlantia» kontrolliert, die ihrerseits das Vermögen der Industriellenfamilie Benetton verwaltet.
Diese «dauergebräunten Kapitalisten» und das angeblich von Brüssel verhängte «Spardiktat» seien allein verantwortlich, heizen Regierungschef Giuseppe Conte, der rechtspopulistische Innenminister Matteo Salvini und Vizepremier Luigi di Maio vom linkspopulistischen Movimento Cinque Stelle (M5S) den Volkszorn seit Tagen an.
Salvini verschweigt dabei, dass Italien seit Jahren einen Grossteil der EU-Fördergelder für Infrastrukturprojekte nicht abgerufen hat. Und di Maio, der «Autostrade» die «ergaunerte» Mautkonzession für die A10 sofort entziehen will, schweigt zu der Tatsache, dass die Genueser Fünf-Sterne-Sektion einen Ersatz für die wackelige Morandi-Brücke seit Jahren blockierte. In einem erst dieser Tage gelöschten Eintrag auf dem Blog des M5S-Gründers Beppe Grillo wurde jede Warnung als typisches Ammenmärchen der geldgierigen Großindustrie verspottet: «Die Morandi steht auch in hundert Jahren noch!»
Nichts Neues also in Italien. Jahrelang hatte Grillo mit seinen «Leck mich am Arsch» Veranstaltungen Stimmung gegen die «korrupte politische Kaste» gemacht. Den alles beherrschenden «Menefreghismo» wollte er beenden. Das war – theoretisch – ein guter Vorsatz. Denn die Einstellung «Mir doch egal!» (it. Me ne frego) ist der Ursprung fast aller italienischen Tragödien.
Für den Staudamm im friulischen Vajont fälschte Chefingenieur Carlo Semenza die Bauanträge und liess kritische Gutachten verschwinden. Am 9. Oktober 1963 starben im Ort Longarone 2000 Menschen in einer 160 Meter hohen Flutwelle. Die Gesamtentschädigung für die Hinterbliebenen 35 Jahre später: zwei Millionen Euro.
Ein Erdbeben tötete am 23. November 1980 fast 3000 Einwohner der an Neapel grenzenden Region Irpinia. Der Wiederaufbau kostete etwa 63 Milliarden Euro. Grösster Nutzniesser des von dem Christdemokraten Ciriaco de Mita und seinen Freunden verwalteten Geldregens war die Camorra.
Auch den Betrieb zweier Absetzbecken eines Bergwerks im Trentiner Fleimstal erlaubten lokale und regionale Politiker wider besseres Wissen. Als die Dämme im Juli 1985 brachen, starben mindestens 268 Menschen.
«Kostenlose Ferien am Meer»
Und statt des versprochenen «blitzartigen Wiederaufbaus» der im April 2009 erdbebenzerstörten Stadt L‘Aquila führte der Milliardär Silvio Berlusconi den Zynismus als politisches Stilmittel ein: «Geniessen Sie Ihre kostenlose Ferien am Meer», empfahl der Premier den Obdachlosen, die in leeren Hotels an der Adria untergebracht worden waren.
In den letzten Monaten hatte sich Rom zum nationalen Symbol für die bröckelnde Infrastruktur entwickelt. Alles wolle sie anders machen, hatte die Juristin und M5S-Aktivistin Virginia Raggi nach ihrer Wahl zur Bürgermeisterin vor zwei Jahren versprochen.
Aber am 16. Februar dieses Jahres brachen in der Via Pereira im Quartier Balduina etwa 50 Meter Strasse weg. Autos stürzten in das Loch. Häuser mussten evakuiert werden. Umsonst hatten die Anwohner schon Tage zuvor Alarm geschlagen.
Inzwischen weiss man: Statistisch gesehen bricht alle zwei Tage irgendwo in Rom eine Strasse ein. Um die Bausünden der Vergangenheit zu reparieren, bräuchte die Stadt rund eine Milliarde Euro. Das Geld wäre da – in Brüssel.
Doch ebenso wie Beppe Grillo, Vizepremier di Maio und die Rechtspopulisten der Lega schimpft auch Bürgermeisterin Raggi lieber auf die «undemokratischen Eurokraten», als sich den gesetzlich obligatorischen Kontrollen der Brüsseler Finanzaufseher zu unterwerfen.
Jetzt, wo der «Menefreghismo» und die Verantwortungslosigkeit in den eigenen Reihen zu Tage tritt, zeigen die Populisten ihr wahres Gesicht: Nach uns die Sintflut! Leckt uns am Arsch!