24 Millionen Menschen sind in Russland zu den Wahlen aufgerufen (Symbolbild)
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Ist das Putins schwerste politische Krise?
Neue Proteste für freie Wahlen in Moskau angekündigt

Nach den grössten Protesten seit mehr als sieben Jahren in Moskau hat die Opposition für diesen Samstag zu neuen Kundgebungen für freie Wahlen aufgerufen. Solche Menschenmassen bei einer Protestaktion hat das russische Machtzentrum Moskau seit Jahren nicht gesehen.
Publiziert: 13.08.2019 um 15:20 Uhr
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Aktualisiert: 13.08.2019 um 15:23 Uhr
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Moskau ist zum Symbol für die politische Krise in Russland geworden.
Foto: Getty Images

Der inhaftierte Kremlkritiker Ilja Jaschin forderte in einem Brief an die Wahlkommission zudem eine Verlegung der für den 8. September angesetzten Moskauer Stadtratswahl.

Am Samstag hatten Zehntausende Menschen an einer Demonstration in der russischen Hauptstadt für demokratische Wahlen und gegen Polizeigewalt teilgenommen. Einmal mehr kam es zu massenhaften Festnahmen.

Was fordern die Demonstranten?

«Annullieren Sie die Pseudowahlen, die am 8. September angesetzt sind. Setzen Sie eine neue Abstimmung Ende des Herbstes an, und garantieren Sie die Teilnahme der Opposition», schrieb Jaschin in dem bei Twitter veröffentlichten Brief aus seiner Arrestzelle.

Die Chefin der zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilowa, hatte dagegen betont, dass Druck auf die Wahlkommission nicht akzeptabel sei. Die Oppositionskandidaten sind wegen Formfehlern nicht zugelassen.

Der Kommunalpolitiker Andrej Morew teilte mit, dass für den 17. August eine neue Kundgebung für das Recht auf faire und freie Wahlen beantragt sei. Eine Entscheidung gibt es dem Vernehmen nach noch nicht. Genehmigt ist bereits eine Kundgebung der systemtreuen Kommunisten mit weiteren linken Kräften für «saubere Wahlen».

Es sind vor allem junge Menschen, eine neue Generation, die sich im Internet - bei Youtube, Facebook und in vielen anderen sozialen Netzwerken - über die Welt informieren. Sie galten lange als politisch nicht besonders interessiert. Auch sonst unpolitische Musiker traten am Samstag in Moskau auf.

Staatliche Medien machen Demo absichtlich kleiner

Unabhängige Medien bezeichneten die Aktion am Samstag als beachtlich für einen Tag in den Augustferien und angesichts dessen, dass die Köpfe der Opposition als Organisatoren durch Haftstrafen ausgeschaltet sind.

Dagegen taten Staatsmedien die Demonstration als Misserfolg ab. Die Polizei hatte von 20'000 Teilnehmern gesprochen. In unabhängigen Moskauer Zeitungen war die Rede von zwischen 50'000 und 60'000 Teilnehmern.

Behörden gehen weiter gegen Opposition vor

Die russische Justiz geht weiter gegen die Opposition vor. Die Juristin Ljubow Sobol sei zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie zu einer nicht genehmigten Kundgebung aufgerufen habe, teilte ein Gericht in Moskau der Agentur Tass zufolge am Montag mit.

Demnach muss sie erneut 300'000 Rubel (umgerechnet etwa 4465 Franken) zahlen. Sobol gehört zum Team des Kremlkritikers Alexej Nawalny und ist seit Wochen im Hungerstreik. Sie war erst am vergangenen Samstag vor Beginn einer Demonstration vorübergehend festgenommen worden. Wegen eines ähnliches Aufrufs war Sobol bereits Anfang August schon einmal verurteilt worden.

Sie habe aus den Medien von der Entscheidung erfahren, schrieb Sobol am Abend bei Twitter. «Das ist viel Geld, aber ich bedauere keine Sekunde, dass ich mich dafür entschieden habe, für die Moskauer zu arbeiten.» Sie wolle die Entscheidung nun beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anfechten.

Ist dies Putins grösste politische Krise?

Moskau ist zum Symbol für die politische Krise in Russland geworden - der schwersten, seit Präsident Wladimir Putin vor genau 20 Jahren an die Macht kam. Die Demonstranten kritisierten lautstark, dass der 66-Jährige seit Wochen zu den Protesten schweige. Putin selbst steuerte demonstrativ lachend ein Motorrad auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim im Tross mit seinen Freunden von der Rockergruppe Nachtwölfe.

In Moskau indes erinnert viel an die Massenproteste von 2011/2012, als Zehntausende Bürger sich bei der von massiven Wahlmanipulationen überschatteten Parlamentswahl um ihre Stimmen betrogen sahen.

Die Protest-Organisatorin Ljubow Sobol weiss, dass sich der Kreml, wenn überhaupt, nur mit Menschenmassen auf den Strassen zu Zugeständnissen bewegen lässt. 

Oppositionsführer Nawalny selbst war 2013 bei der Bürgermeisterwahl in Moskau gegen den vom Kreml eingesetzten Sergej Sobjanin angetreten. Sobjanin gewann mit 51 Prozent. Doch seit Nawalny damals auf beachtliche 27 Prozent der Stimmen kam, unternehmen die Behörden einiges, um ihn und sein Team von Wahlen fernzuhalten.

Kreml unterschätzt die Bevölkerung

Behörden seien nicht vorbereitet darauf, dass sich die Jugend nun plötzlich für Politik interessiere und sich eine Protestbewegung entwickeln könnte, meinte der Politologe Michail Winogradow beim Radiosender Echo Moskwy. Der Kreml habe sich bisher auf ihren «Patriotismus» verlassen. Die Jugend von heute sei aber fordernder als frühere Generationen.

Breit diskutiert wird seit Wochen in Russland, dass der Kreml die Proteststimmung in Moskau unterschätzt haben könnte. Tatsächlich verlief der Ausschluss unbequemer Kandidaten bei der Stadtratswahl vor fünf Jahren noch weitgehend ruhig. 

Mit dem Ausschluss alternativer Kandidaten und dem brutalen Vorgehen gegen friedliche Demonstranten hätten Bürgermeisteramt und Kreml die Routinewahl hingegen nun in eine «ernste politische Krise» verwandelt, meint Andrej Perzew in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie Center in Moskau.

Die Regierungspartei Geeintes Russland muss bei den am 8. September in vielen Regionen angesetzten Wahlen Umfragen zufolge mit massiven Verlusten rechnen. Von den systemtreuen Kandidaten bei der Moskauer Stadtratswahl meidet wohl auch deshalb jeder die Nähe zu der Partei.

Russen sind unzufrieden mit Regierungspartei

Die soziale Unzufriedenheit über steigende Preise, sinkende Einkommen und eine im vergangenen Jahr ebenfalls zeitweilig von Protesten begleitete Erhöhung des Rentenalters ist landesweit gross. Die Menschen lasten all das der Regierungspartei an. Aber auch die Zustimmungswerte für Kremlchef Putin sind Umfragen zufolge die schlechtesten seit 18 Jahren.

Viele der jungen und gut ausgebildeten Oppositionspolitiker sind überzeugte Kämpfer gegen die in Russland allgegenwärtige Korruption. Sie wissen zwar, dass es sich um eine vergleichsweise kleine Wahl für ein Parlament ohne Einfluss handelt. Wer im Stadtparlament, der Mosgorduma, sitzt, arbeitet dort ehrenamtlich in Teilzeit - ohne echte Machtbefugnisse. 

Zugleich ist Moskau die reichste und politisch bedeutendste und einwohnerreichste Stadt des Landes. Unbequeme Abgeordnete können dem Bürgermeister das Leben schwer machen. Sie könnten Vorhaben blockieren - und den Haushalt. Manche sehen es gar als möglichen ersten Schritt auf dem Weg zur Eroberung des Kremls. 

Schwieriger Einstieg in Moskauer Regierung

Die Mosgorduma mit ihren 45 Sitzen sei allerdings stärker als andere regionale Parlamente gegen unerwünschte Kandidaten geschützt, sagt der Carnegie-Analyst Perzew. «Sie ist praktisch eine uneinnehmbare Festung.» 

Was er meint, sind die strengen Auflagen für eine Registrierung. Kandidaten müssen in der Stadt mit den mehr als zwölf Millionen Einwohnern Tausende Unterstützungsunterschriften sammeln.

Der prominente Oppositionspolitiker Ilja Jaschin etwa, wie viele führende Köpfe der Opposition im Moment im Arrest, erhielt am Freitag seine endgültige Absage. Ihm fehlten 76 Unterschriften von Bürgern aus Moskau, um sich als Kandidat registrieren zu lassen. Er reichte laut Wahlkommission 4936 Unterschriften ein, von denen 505 für ungültig erklärt wurden. 

Jaschin, der bereits in einer administrativen Gemeindestruktur (Munizipalität) in einem Moskauer Stadtteil Erfolge vorweisen kann, rechnete sich gute Chancen auf einen Platz im Stadtrat aus. Wie ihm geht es Dutzenden.

Werden Proteste noch grösser?

Der kremlkritische Moskauer Experte Pawel Felgenhauer hält es für möglich, dass sich die Proteste ausweiten - auch angesichts einer allgemeinen Unzufriedenheit über die Wirtschaftslage im Land. 

«Wenn diese verbreitete soziale Frustration anfängt, sich mit dem Aktionismus der Opposition in der Hauptstadt zu vermengen, dann könnte die scheinbar granit-feste Struktur von Putins politischem System anfangen zu bröckeln», meint Felgenhauer. Aber noch ist eine Losung, die die verschiedenen unzufriedenen Gruppen verbinden könnte, nicht gefunden. (SDA)

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