Interview mit dem renommierten Psychoanalytiker Boris Cyrulnik
«Putin ist weder verrückt noch paranoid»

Putin sei kein Spinner, sagt der renommierte Psychoanalytiker Boris Cyrulnik. Er erklärt, weshalb die Menschheit Krieg führt.
Publiziert: 20.11.2022 um 15:43 Uhr
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Boris Cyrulnik (85) ist ein französischer Neurologe, renommierter Psychoanalytiker und Essayist.
Foto: Blaise Kormann
Amit Juillard

Dürfen wir uns über russische Niederlagen freuen, wenn das bedeutet, dass junge Menschen an der Front sterben? Wieso führt der Mensch so gerne Krieg? Und weshalb führt Wladimir Putin (70) so gerne Krieg?

Ein paar dieser Fragen beantwortet Boris Cyrulnik in seinem neuesten Buch «Le laboureur et les mangeurs de vent», das dieses Jahr beim Verlag Odile Jacob auf Französisch erschienen ist. Blick erreicht Cyrulnik um zehn Uhr morgens. Wir haben gerade noch Zeit, uns über unsere Bildschirme zu begrüssen, bevor der Bildschirm einfriert. Weiter geht das Gespräch per Telefonanruf nach Südfrankreich.

Blick: Boris Cyrulnik, Sie sind Psychoanalytiker. Haben Sie versucht, die Psyche von Wladimir Putin zu verstehen, der oft als «verrückt», bezeichnet wird?
Boris Cyrulnik: Ja, natürlich. Unter anderem habe ich dafür Wladimir Federowski getroffen, einen russischen Diplomaten und Schriftsteller ukrainischer Herkunft, der mit Putin zusammengearbeitet hat. Herausgekommen ist: Putin ist weder verrückt noch paranoid. Er hatte eine schwierige Kindheit mit Erziehungsdefiziten. Durch Sport und Judo konnte er sich halbwegs vor der Kriminalität bewahren. Aber die Liebe für Schlägereien und seine impulsive Persönlichkeit ist tief in seinem Inneren bestehen geblieben.

Das widerspricht vielen anderen Analytikern.
Einfach zu sagen, dass jemand verrückt ist, erklärt gar nichts, im Gegenteil. Es hält einem sogar davon ab, genauer darüber nachzudenken. In Frankreich gibt es zahlreiche Menschen mit psychischen Krankheiten, die keinen Krieg verursachen.

Boris Cyrulnik

Boris Cyrulnik (85) ist französischer Neurologe, renommierter Psychoanalytiker und Essayist. Er hat bereits über 2,5 Millionen Bücher verkauft. Als Kind eines Ukrainers und einer Polin wuchs er in Frankreich bei seiner Tante auf. Seine Eltern, beide jüdisch, wurden im Zweiten Weltkrieg im Holocaust getötet.

Boris Cyrulnik (85) ist französischer Neurologe, renommierter Psychoanalytiker und Essayist. Er hat bereits über 2,5 Millionen Bücher verkauft. Als Kind eines Ukrainers und einer Polin wuchs er in Frankreich bei seiner Tante auf. Seine Eltern, beide jüdisch, wurden im Zweiten Weltkrieg im Holocaust getötet.

Die sind aber nicht an der Macht.
Putin hat es geschafft, an die Spitze des Staates zu gelangen. Er wollte das Ansehen Russlands, das durch den Fall der Berliner Mauer und den wirtschaftlichen Ruin gedemütigt wurde, wieder aufpolieren. Es ist vergleichbar mit Deutschland: Die Demütigung durch den Versailler Vertrag 1918 ermöglichte erst den Aufstieg Hitlers.

Trotzdem: Hat Putin nicht einen psychopathischen Drang, über das Leben anderer Menschen zu bestimmen?
Doch. Putin hat eine Empathiestörung. Wie sehr viele Militärs, sehr viele Politiker und sehr viele Manager grosser Unternehmen, die nicht zögern, giftige Produkte zu vermarkten, um damit mehr Geld zu verdienen. Doch das löst noch keinen Krieg aus.

Wie kommt es, dass Putin einen Krieg anzettelt?
Aus seinem Wunsch heraus, das grosse Russland wieder herzustellen und die erlittene Demütigung wiedergutzumachen. Zudem muss man bedenken, dass man ihm vorher erlaubt hat, die Krim einzunehmen, Syrien zu zerstören und die Kurden zu bekämpfen, ohne ihn diplomatisch zu bremsen. Er ging wohl davon aus, dass es bei der Ukraine gleich ablaufen würde.

Bei unserer letzten Unterhaltung sprachen Sie von Hoffnung. Die Pandemie hatte ihren Schrecken verloren, es war wenige Tage, bevor Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten. In welcher Stimmung sind Sie heute?
Ich denke, wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Geschichte. Wenn Putin die Ukraine annektiert, werden wir in eine Periode endloser Kriege eintreten. Wirtschaftlich dafür bezahlen werden wir alle – sowohl die Ukraine, Russland, China, aber auch Frankreich und die Schweiz.

Wie lässt es sich auf psychologischer Ebene erklären, dass Menschen Kriege führen?
Menschen fürchten Zweifel und brauchen Gewissheit. Sie haben weniger Angst, wenn sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln können. Es ist beruhigend, wenn alle die gleiche Sprache sprechen, an den gleichen Gott glauben, die gleichen Vorstellungen einer Gesellschaft haben.

Bis dahin ist es noch kein Krieg.
Die Anwesenheit einer anderen Gemeinschaft kann schnell Angst machen und Hass auslösen. Diese Angst und der Hass sind die Gründe, weshalb Konflikte ausbrechen und Menschen im Krieg ohne Schuldgefühle töten können.

Ist es normal, sich über die russischen Niederlagen zu freuen?
Ja, das haben wir schon immer getan. Ich freue mich über russische Niederlagen. Denn wenn Putin gewinnt, wird es tausend Kriege auf der Welt geben. Aber ich freue mich nicht über den Tod von Russen. In einem Land, in dem Krieg herrscht, ist es genau umgekehrt: Man freut sich gewissermassen über den Tod von Männern und Frauen, die im Kampf sterben.

Ihre Eltern starben im Holocaust, Sie sind nur knapp entkommen. Ihr Vater war Ukrainer. Erkennen Sie sich heute in den ukrainischen Kindern in Kiew und Mariupol wieder?
Ich erkenne mich in allen verfolgten Kindern wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich mich sogar mit allen Verfolgten der Welt identifiziert. Das ist mein persönliches Engagement.

Boris Cyrulnik

Boris Cyrulnik (85) ist französischer Neurologe, renommierter Psychoanalytiker und Essayist. Er hat bereits über 2,5 Millionen Bücher verkauft. Als Kind eines Ukrainers und einer Polin wuchs er in Frankreich bei seiner Tante auf. Seine Eltern, beide jüdisch, wurden im Zweiten Weltkrieg im Holocaust getötet.

Boris Cyrulnik (85) ist französischer Neurologe, renommierter Psychoanalytiker und Essayist. Er hat bereits über 2,5 Millionen Bücher verkauft. Als Kind eines Ukrainers und einer Polin wuchs er in Frankreich bei seiner Tante auf. Seine Eltern, beide jüdisch, wurden im Zweiten Weltkrieg im Holocaust getötet.


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