Es waren viele Menschen, die am Montag auf Einladung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga (57) nach Bern kamen: Vertreter von 13 Staaten, Delegationen der EU, des Internationalen Roten Kreuzes und diverser Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen.
Sie alle gehören zur «Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer», die Italiens Innenminister Marco Minniti (61) im vergangenen März ins Leben gerufen hatte und die Lösungen im Kampf gegen den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer nach Europa finden soll.
Konfliktherd Libyen
Die Mitglieder der Kontaktgruppe sind sich einig: Besonders beunruhigend ist die Lage – mal wieder – in Libyen. Seit der langjährige Diktator Muammar al-Gaddafi am 20. Oktober 2011 aus einem Abflussrohr seiner Heimatstadt Sirte gezerrt und kurzerhand erschossen wurde, herrschen in Libyen Chaos und Bürgerkrieg.
Das Scheitern des «Arabischen Frühlings» gab auch religiösen Fanatikern Auftrieb. Inzwischen ist auch der in Syrien und dem Irak weitgehend zerschlagene Islamische Staat (IS) in Libyen präsent.
EU hat die Spielregeln verändert
Hunderttausende haben seitdem das libysche Chaos genutzt, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Es sind Menschen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten, die es nach der Schliessung der Balkanroute jetzt über das Mittelmeer versuchen. Und immer mehr Menschen aus Afrika, die sich wegen Armut, Hunger, Gewalt und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat auf den Weg nach Norden machen.
Aber seit der Einrichtung der Kontaktgruppe hat die Europäische Union die Spielregeln verändert. Nach den Plänen der EU sollen die Flüchtlinge schon weit vor der Mittelmeerküste abgefangen werden. In sogenannten Hot Spots wird über ihr Visum nach Europa entschieden. Wer kein Visum bekommt, muss zurück.
Schlepper sollen Migranten abhalten
Gleichzeitig hat die EU neue Abkommen mit libyschen Milizen getroffen. Sie sind es, die den Schlepperbanden ihr schmutziges Milliardenhandwerk legen sollen. Dass dabei Böcke zu Gärtnern gemacht werden, wird geflissentlich übersehen. Die Mitglieder, etwa der berüchtigten Brigade 48, die jetzt mit Geld aus Brüssel am Strand von Sabratha für «Ordnung» sorgen, waren bis vor kurzem selber im Schleppergeschäft tätig.
Aufgerüstet worden ist auch die libysche Küstenwache. Mehrfach schon haben die Besatzungen ihrer bewaffneten Schiffe innerhalb einer völkerrechtswidrigen Hoheitszone auf Flüchtlingsboote, aber auch auf europäische Rettungskräfte geschossen.
Humanitäre Katastrophe
Gut getan hat diese neue Politik allein der Statistik. Innert eines Monats sank im vergangenen Sommer die Zahl der von Libyen aus in Richtung Italien gestarteten Flüchtlinge um über 90 Prozent.
Doch was den Europäern nützt, hat in Libyen selbst zu einer humanitären Katastrophe geführt. Zehntausende arme Teufel haben die Milizionäre in den vergangenen Monaten verhaftet und in menschenunwürdige Internierungslager gesperrt. Von dort aus sollen sie in ihre Heimatländer zurückgebracht werden. Auch dafür gibt es Geld aus Brüssel.
Die Zustände in den Lagern sind ein Skandal: Da sitzen dann Hunderte Seite an Seite in überhitzten Hallen. Was immer sie besassen, wurde ihnen von ihren Wächtern gestohlen. Der Gestank aus den offenen Latrinen ist bestialisch. Die Frauen werden systematisch vergewaltigt. Immer wieder berichten Häftlinge von sklavenartiger Zwangsarbeit (BLICK berichtete).
Eine Lösung wird Jahre dauern
Die in Bern versammelte Kontaktgruppe weiss um diese Zustände. Bundesrätin Sommaruga will wenigstens die Schutzbedürftigsten aus der libyschen Internierung befreien und nach Europa holen. Sollte es überhaupt dazu kommen, wird das Jahre dauern. Gleichzeitig sind andere Lösungen dieser humanitären Katastrophe nicht in Sicht.
Als es darum ging, die Libyer vor den Angriffen Gaddafis zu schützen, waren allen voran Frankreich und England zur Stelle. Ohne ihre Luftangriffe im Sommer 2011 hätten die Aufständischen keine Chance gehabt.
Aber seitdem hat Europa Libyen im Stich gelassen. Den Preis dafür zahlen jetzt Hunderttausende, deren einziges «Verbrechen» die Sehnsucht nach einem besseren Leben in Sicherheit und Freiheit war.