Die Luft ist frisch in der ukrainischen Geisterstadt Prypjat, nur vier Kilometer nordwestlich des einstigen Kernkraftwerks von Tschernobyl. Der Wind bläst durch zögerlich knospende Birken, in denen unsichtbar die Vögel zwitschern. Sonst ist es still.
Der Frühling ist noch nicht ganz da, die meisten Bäume und Schlingpflanzen sind kahl. Sie wuchern entlang des Lenin-Boulevards, der sich mitten durch Prypjat zieht. Die einstige Prachtstrasse ist heute ein holpriger Waldweg. Noch ist der Blick frei auf die Ruinen links und rechts der Strasse. In wenigen Wochen wird das Grün zu dicht sein.
Es wäre idyllisch hier in der wilden Stadtnatur. Doch wer den Ort eine Weile erkundet, dem wird bald mulmig. Seit 29 Jahren ist Prypjat nuklear verseucht, seitdem im nahen Kraftwerk von Tschernobyl der Reaktor explodierte.
Hat da nicht eine Tür geknallt? Ist da nicht ein Schatten vorübergehuscht? Das Hirn versucht, eine unsichtbare Bedrohung sichtbar zu machen. Denn radioaktive Strahlung sieht und spürt man nicht. Doch sie ist überall. Auf Jahrhunderte hinaus.
Stanislav Shekstelo (59) kickt einen Ast vom Asphalt. «Hier hat heute die Natur das Sagen, nicht der Mensch mit seinen Technologien», sagt er. Seit 25 Jahren arbeitet er in der Sperrzone von Tschernobyl, einst als Sicherheitsinspektor, heute als Reiseleiter in Prypjat.
Zwei bis drei Mal pro Woche leitet er Gruppen durch die Stadt, Wissenschaftler, Journalisten, Touristen. Seit dem Atomunfall in Fukushima kommen vermehrt Japaner. Sie reisen hierher, um selber zu erleben, welch lange Schatten die Katastrophe von Tschernobyl geworfen hat.
Der Ort ist zum Mahnmal geworden.
Einst war Prypjat eine Vorzeigestadt der Sowjetunion, 50 000 Menschen lebten hier, etwa so viele wie in Biel BE. Die meisten waren Kernkraftwerk-Mitarbeiter mit ihren Familien. Sie bekamen gute Löhne, hatten neue Wohnungen. Die Stadt wurde 1970 eigens für sie gebaut.
«Es macht mich jedes Mal traurig hierherzukommen», sagt Shekstelo. «Die Menschen waren glücklich hier.»
Shekstelo führt ins Innere des einstigen Kulturpalastes Energetik am Hauptplatz. Glasscherben liegen verstreut am Boden, sowjetische Wandbilder blättern ab, der Verputz bröckelt. «Das ist mein Lieblingsgebäude», sagt er. «Die Menschen tanzten und feierten hier. Ich stelle mir immer vor, wie ihr Leben damals wohl war.»
Als am 26. April 1986 in der Nachbarschaft der Reaktorblock 4 von Tschernobyl explodierte, erfuhren die Menschen in Prypjat nichts davon. Über die Atomkatastrophe informierte sie niemand. An dem Samstag flanierten sie wie immer in der Stadt und freuten sich auf das bevorstehende Fest zum 1. Mai.
Der Rummelplatz war schon aufgebaut. Die Autoscooter und das Riesenrad stehen heute noch, verrostet, mit Moos überwuchert, radioaktiv. Kein Kind sass je darin.
Erst 36 Stunden nach der Explosion wurde die Stadt mit über 1000 Bussen evakuiert. Da hatten bereits gewaltige Mengen radioaktiven Materials die Umgebung kontaminiert. Die Menschen durften nur das Nötigste mitnehmen. Man sagte ihnen, sie könnten in drei Tagen wieder in ihre Häuser zurück. Seither ist die Stadt verlassen.
Aber selbst an diesem Ort finden sich stramme Unterstützer der Kernenergie. Igor Gramotkin etwa, der heutige Direktor des Kernkraftwerks Tschernobyl. Unter ihm wird keine Energie produziert, sondern bloss Atommüll entsorgt. Trotzdem sagt er: «Wir können es uns nicht leisten, auf Atomkraft zu verzichten.»
Aus der Katastrophe von Tschernobyl habe die ganze Welt gelernt. Die Menschen hätten ihre Kraftwerke sicherer gemacht. «Wir hörten nach dem Untergang der Titanic auch nicht einfach auf, Schiffe zu benutzen», so Gramotkin.
Dabei bleibt Prypjat für immer unbewohnbar. Die radioaktive Strahlung im Ort liegt heute noch ein Vielfaches über den Grenzwerten. Ein weiteres Problem: Die Häuser verfallen zunehmend.
Eingestürzt ist etwa das Dach der Schule «Nr. 1». 1500 Kinder lernten hier, in einer der fünf Schulen der Stadt. Stadtführer Shekstelo führt durch Gestrüpp zu den Trümmern. «Diese Stadt starb einen frühen Tod, sie wurde nur 16 Jahre alt», sagt er.
Das eingestürzte Dach hat die Klassenzimmer freigelegt. Sie sind in der Zeit stehen geblieben. Über den Pulten hängt ein Porträt des kommunistischen Vordenkers Friedrich Engels. Links und rechts von ihm hingen einst die Bilder der Kommunisten Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin. Sie sind heute zerstört. Auf einer Wandtafel steht mit Kreide geschrieben: «Unsere Stadt wird alleingelassen.»