Das E-Mail, das Joe Kaeser vor ein paar Tagen in seinem Posteingang fand, war unmissverständlich: Wegen seines Engagements für die Seenotretterin Carola Rackete werde der Chef des deutschen Siemens-Konzerns «der nächste Lübcke» sein. Gezeichnet: adolf.hitler@nsdap.de.
Noch vor ein paar Wochen wäre Empörung die einzige Reaktion auf einen solchen Drohbrief gewesen. Doch seit der Nacht zum 2. Juni 2019 ist alles anders – jetzt geht die Angst um in der Bundesrepublik.
An jenem Tag wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke aus nächster Nähe erschossen. Die Bundesanwaltschaft hält den vorbestraften Rechtsextremisten Stefan E. trotz Widerruf seines Geständnisses weiterhin für dringend tatverdächtig.
Justiz blieb untätig
Im Internet wird der mutmassliche Mörder als Held und Vorbild gefeiert. Die Zahl der anonymen und längst nicht nur rhetorischen Drohungen im Netz gegen Politiker, Journalisten, Aktivisten und Andersdenkende wächst.
Weil dies nicht nur nach Ansicht von Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach «eine Herausforderung für Demokratie und Rechtsstaat darstellt», beschäftigen sich seit Anfang 2018 zwei Staatsanwälte ausschliesslich mit der strafrechtlichen Verfolgung von Hass und Hetze in sozialen Netzwerken. Andere Bundesländer wollen dem Beispiel des grössten deutschen Bundeslandes folgen.
In der Vergangenheit blieb die Justiz selbst dann noch untätig, wenn Kanzlerin Angela Merkel in Sachsen mit wütendem «Fotze, hau ab»-Gebrüll empfangen oder am Galgen baumelnd als Souvenirfigur verkauft wurde. Diese Zeiten sind wohl vorbei.
1200 politisch motivierte Angriffe
Das erste Fanal war der Messerangriff eines Rechtsextremisten vom 17. Oktober 2015 auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Sie überlebte nur knapp.
Allein im letzten Jahr wurden auf kommunaler Ebene 1200 politisch motivierte Angriffe registriert. «Kommunalpolitiker in Deutschland zu sein», konstatierte die konservative «Frankfurter Allgemeine Zeitung», «ist ein gefährlicher Beruf geworden».
Unter dem Absender NSU 2.0 wurden Drohbriefe an eine türkischstämmige Anwältin der Opfer rechtsextremer Gewalt verschickt – von einem Frankfurter Polizeicomputer! Der ursprüngliche «Nationalsozialistische Untergrund» hatte zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet.
Rechte sammeln 10'000 Schuss Munition
In Mecklenburg-Vorpommern hatten rechte Politiker und Anwälte, Kriminalbeamte und Bundeswehrsoldaten des «Kommandos Spezialkräfte» die Namen von etwa 25'000 «Volksfeinden» und 10'000 Schuss gestohlener Munition gesammelt. Für den Tag X war der Einkauf von 200 Leichensäcken und Ätzkalk geplant.
Mit Tätern wie diesen will die Alternative für Deutschland (AfD) offiziell nichts zu tun haben. Dafür zielen die Rechtspopulisten mit Lügen und Geschichtsklitterung auf das Herz der bürgerlichen Mitte.
Ihr Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland etwa beschrieb die zwölfjährige Nazi-Diktatur als «Vogelschiss» in der ansonsten makellosen deutschen Geschichte. Bei den Landtagswahlen im September dürfte ihm das nicht schaden. Demoskopen halten den Aufstieg der AfD zur grössten Partei in Brandenburg und Sachsen für möglich.