Dutzende Frauen mit ihren Kindern drängen sich im engen, dunklen Flur des baufälligen Hauses in der türkischen Mittelmeermetropole Izmir. Das Gebäude im Altstadtviertel Basmane ist für viele syrische Flüchtlinge die einzige Anlaufstelle. Yalcin Yanik, der Mann, der das offene Haus betreibt, hatte bis vor einem Jahr eine Lederschneiderei im Viertel, jetzt lebt er von einer kleinen Rente. Seit 2013 kümmert er sich um die Flüchtlinge. «Inzwischen mache ich das 14 Stunden am Tag, denn niemand hilft hier», sagt er. 15 Freiwillige unterstützen ihn, er sammelt Spenden der Bevölkerung und bekommt Kleider und Lebensmittelpakete von europäischen Hilfsorganisationen; Geld nimmt er prinzipiell nicht an.
«Es mangelt an allem, und die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Syrien schwindet», sagt der Mann mit dem grauen Vollbart. Flüchtlinge fragen ihn nach Arbeitsmöglichkeiten, Kleidung oder Schulranzen für ihre Kinder. «Glücklicherweise konnten wir gerade 250 Ranzen verteilen, aber wir bräuchten noch mal so viele», sagt Yanik. «Vom Staat bekommen die Leute nichts, ausser einer medizinischen Grundversorgung.»
Offiziell leben in Izmir rund 100'000 Flüchtlinge, doch vermutlich seien es dreimal so viele, meint Yalcin Yanik. Viele haben Wohnungen in Basmane bezogen, einem Gewirr von engen Gassen und Basarstrassen, eigentlich zum Abriss vorgesehen. Zahlreiche Häuser standen leer und verwahrlosten. Als nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien die Flüchtlinge kamen, füllte sich das historische Viertel im Herzen der Viermillionenstadt wieder. Basmane wurde zur Drehscheibe für alle, die einen Fluchtweg über die Ägäis nach Europa suchten. Doch seit die Türkei nach dem Flüchtlingsabkommen mit der EU im März die Seegrenze schloss, ist Basmane für viele zur Sackgasse geworden.
Auch der 55-jährige Said Habesch und seine Frau Halide bitten Yalcin um Hilfe, doch an diesem Tag muss er sie enttäuschen. «Es tut mir so leid», sagt der weissbärtige Helfer. «Aber wir können heute nichts für euch tun.» Obwohl Said und seine Frau jetzt elf Personen ernähren müssen, vor einem Monat ist Saids Schwägerin Neriman aus Aleppo mit ihren beiden Kindern gekommen. «In Aleppo gibt es nichts mehr zu essen», sagt die 40-Jährige. Ihrem Mann glückte im letzten Jahr die Flucht nach Deutschland; ihr bleibt als einzige Hoffnung die Familienzusammenführung.
In Basmane harren alle elf nun in drei kleinen Zimmern aus. Said Habesch weiss, dass es seit dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei für ihn kaum noch eine Chance gibt, Europa zu erreichen. Die Habeschs haben, wie die meisten Syrer, von den versprochenen drei Milliarden Euro der EU im Rahmen des Flüchtlingsdeals gehört, aber keine Vorstellung davon, ob und wie sie die Hilfe bekommen können. Auch Yalcin Yanik weiss es nicht. Zehntausende Syrer leben wie Familie Habesch in Izmir von der Hand in den Mund. Und es kommen immer mehr, obwohl die Türkei ihre Grenze nach Syrien geschlossen hat. «Der Zustrom ist nicht stark, aber stetig, wir spüren ihn», sagt Yanik.
Basmane ist für viele zur Sackgasse geworden
Zwar sind im September doppelt so viele Flüchtlinge auf den griechischen Inseln gelandet wie im August, aber die Zahlen sind noch weit vom Vorjahr entfernt. «Damals fuhren an einem Tag so viele übers Meer wie jetzt in einem Monat», sagt Dilan Tasdemir (23) Sprecherin des Flüchtlingsrats von Izmir, dem ersten und einzigen Gremium dieser Art in der Türkei. Doch seit März würden Küstenwache und Polizei hart durchgreifen. Von einer neuen Flüchtlingswelle könne bisher nicht die Rede sein.
Das zeigt sich auch in Izmirs Basarstrassen. Schwimmwesten, letztes Jahr noch der Renner, sind heute Ladenhüter. Huzer, ein 43-jähriger Händler, hat zwei im Schaufenster. «Richtig gute Qualität, ich habe sie für 75 Lira (rund 25 Franken) pro Stück eingekauft», sagt er. «Ich konnte sie für 100 Lira verkaufen, aber jetzt braucht keiner mehr Schwimmwesten.» Er verschleudert die letzten nun für zehn Lira.
Aus der Not haben einige eine Tugend gemacht und eine eigene Wirtschaft aufgebaut. Die Anafartalar-Strasse in Basmane erinnert mit ihren syrischen Händlern, Kaffeeköchen und dem Geruch orientalischer Gewürze und den Klängen arabischer Musik verblüffend an Aleppo. Mitten im Basar betreibt der junge syrische Kurde Ber Hudan seinen sechs Quadratmeter grossen Saftladen «Izmir Vitamin».
Der 26-jährige sah Angehörige und Freunde kommen und gehen. «Viele sind jetzt in Europa, in Deutschland, der Schweiz oder Norwegen», sagt er. Er hingegen steht 16 Stunden täglich im Laden. Trotzdem reicht der Ertrag nicht. «Hier gibt es für uns keine Zukunft, das türkische System blockiert uns», sagt er. «Wir hoffen noch auf eine Rückkehr nach Syrien. Oder legal nach Europa zu kommen.»
Ber Hudan kennt die aktuellen Preise der Schlepper: 500 Franken für die Überfahrt auf griechische Inseln, halb so viel wie im letzten Jahr. Natürlich hat er auch vom neusten Angebot erfahren: «Sie geben dir die Garantie, dass du das Land deiner Wahl erreichst – für 5000 Franken pro Person.» Ein Vermögen für die meisten Geflüchteten.
«Schlauchboote sind aus der Mode gekommen, 400 bis 650 US-Dollar kostet die Fahrt mit dem Schnellboot», weiss Issa (Name geändert), ein ehemaliger Mathematiklehrer aus Aleppo. Er bestätigt die neuen All-inclusive-Angebote: «Die Leute werde übers Meer bis nach Athen gebracht, dann geht es weiter mit dem Flugzeug nach Deutschland.» Er selbst habe den Plan aufgegeben, mit seiner Familie nach Europa zu gelangen. «25000 Franken für uns fünf kann ich einfach nicht aufbringen.»