Er sieht angeschlagen aus und hat sichtlich Mühe, über das Erlebte zu sprechen. Priester Yves-Marie Lequin (63), der seit 15 Jahren in Nizza wirkt, empfängt BLICK in der Kirche St-Pierre d’Arène. Sie liegt unweit der Promenade des Anglais. Der Pater gibt zu: «Ich sehe die Bilder immer wieder vor meinem inneren Auge. Es war der Horror.»
Zum Tatzeitpunkt fuhr Lequin im Auto durch die Rue de France – nur wenige Meter vom Attentat entfernt. Er erinnert sich: «Plötzlich kamen Hunderte Menschen in Panik angerannt. Ich hielt an und versteckte mich in einem Restaurant.»
Nach etwa 30 Minuten erhält der Priester ein SMS des Bürgermeisters. Er bittet den Geistlichen ins Centre Universitaire Méditerranéen, eine Villa direkt an der Promenade des Anglais. Der Pater soll als Teil eines Interventionsteams traumatisierte Menschen betreuen: «Ein Ansturm. Viele konnten nicht mehr reden, sassen stumm da. Eine Frau kannte nicht einmal mehr ihren eigenen Namen.»
«Ich begleitete die Mutter zu ihrem toten Kind»
Es wird die schlimmste Nacht seines Lebens. «Ich kümmerte mich um eine Mutter, deren Kleinkind tot auf der Strasse vor dem Zentrum lag. Sie durfte nicht hin. Die Polizei liess nur Rettungskräfte auf die Promenade.» Das Kind war in ein Tischtuch eines Strassencafés eingewickelt. Der Priester verhandelt mit der Polizei: «Ich begleitete schliesslich die Mutter zu ihrem toten Kind.»
Danach betreut der Priester einen Jungen (17). «Er hatte Kopfhörer auf und hörte Musik, als der Lastwagen nur wenige Zentimeter an ihm vorbei durch die Menge pflügte. Um ihn herum lagen zerfetzte Körper, schwer verletzte Menschen. Er wollte helfen, aber konnte nicht. Die Menschen waren so stark entstellt, dass er weggerannt ist.»
«Man lernte in dieser Nacht zu schweigen»
Wie konnte der Priester den Menschen helfen? «Ich habe versucht, den Menschen Hoffnung zu geben. Ich konnte nichts tun, nur da sein und zuhören. Man lernte in dieser Nacht zu schweigen.» Pater Yves-Marie kommt an seine Grenzen. «Ich habe nichts Ähnliches erlebt. Es ist wie im Krieg. Nicht nur ich bin völlig fertig, auch die Feuerwehrleute, die Polizisten, die Ärzte. Obwohl sie doch Profis sind.»
Seine nächste schwere Aufgabe wartet bereits. «Ich beginne mit der Vorbereitung für die vielen Beerdigungen. Auch hier muss ich versuchen, den Menschen die Hoffnung auf Frieden zurückzugeben.»
Lequin sorgt sich um sein Nizza: «Es macht sich Hass breit. Ich diskutiere mit Christen, Muslimen, Juden, wie die Zukunft aussehen muss. Es geht nicht anders, wir müssen zusammenarbeiten. Sonst gibt es hier Krieg.»