Ein halbes Jahr bevor Joshua Wong (23) für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, landete er zum ersten Mal im Gefängnis. Das Vergehen des damals 20-Jährigen: Teilnahme an der verbotenen Kundgebung, die die Regenschirm-Revolution von 2014 lostreten sollte. Damals wie heute fordern die Protestierenden unter anderem, dass die Hongkonger Regierungschefin über freie Wahlen und nicht von einem Wahlkomitee bestimmt wird.
Nach der Regenschirm-Revolution gründete Joshua Wong mit Mitstreitern die politische Organisation Demosisto. Sie wollen die Anliegen der Strasse in die Politik tragen. Am 29. Oktober 2019 schlossen die Behörden Joshua Wong jedoch von den lokalen Wahlen aus – als einzigen Kandidaten. Die Begründung: Demosisto verstosse gegen die Verfassung.
Die Organisation fordert, dass die Bevölkerung Hongkongs über die Zukunft ihrer Stadt abstimmt. Dabei schliesse sie, laut Behörden, die Unabhängigkeit von China nicht aus. Joshua Wong sieht das anders: «Der wahre Grund ist meine Identität. Joshua Wong zu sein, das ist das Verbrechen in ihrem Kopf.» Sein Ausschluss mache klar, dass China die Wahlen manipuliere.
Mittlerweile erreicht die Gewalt in Hongkong einen neuen Höhepunkt. Am Freitag erlag ein 22-Jähriger seinen schweren Verletzungen. Der Student war am Montag am Rande von Zusammenstössen zwischen der Polizei und Demonstranten von einem Parkhaus gestürzt. Gestern Samstag kam es zu Gewaltausbrüchen. Ausserdem nahm die Polizei drei pro-demokratische Abgeordnete fest.
Joshua Wong, wovon träumen Sie?
Joshua Wong: Von Freiheit und Demokratie für Hongkong, meine Heimatstadt.
Sie wurden bereits mehrmals verhaftet, verprügelt und bekamen Reiseverbote. Sie werden überwacht, und selbst Menschen aus Ihrem näheren Umfeld wurden Opfer von Gewalt. Warum nehmen Sie für diesen Traum so viel auf sich?
Im Vergleich zum Preis, den viele andere Aktivisten zahlen, ist meiner gering. 3000 Aktivisten wurden in diesem Jahr verhaftet, 500 angeklagt. Wir haben brutale Polizeigewalt gegen Bewohner der Stadt erlebt. Aber die einzige Lektion, die ich daraus gelernt habe, ist, dass ich noch mehr zur Bewegung beitragen möchte.
Sie könnten ein sorgenfreies Leben in Europa oder den USA führen. Warum ist Ihnen Hongkong so wichtig?
Ich bin ein Hongkonger, das ist meine Identität. Ich bin in dieser Stadt geboren, ich lebe in ihr und ich liebe sie. Als Hongkonger stehen wir an vorderster Front, wenn es darum geht, einem autoritären Regime entgegenzutreten. Es gibt keinen Grund für uns, uns zurückzuziehen.
Sie wurden christlich erzogen. Ihr Vater hat Ihnen beigebracht, sich auch um die Vergessenen in der Stadt zu kümmern. Welche Rolle spielt Ihr Glaube in diesem Kampf?
Als Christ ist es wichtig zu überlegen, wie man das Licht in der Gesellschaft sein kann. Die Kirche hat mich dazu inspiriert, für unsere Freiheit einzustehen. Meinen Glauben praktiziere ich im Protest und in der Bewegung.
Seit Ihrer Jugend exponieren Sie sich für die Demokratiebewegung. Wie fühlen sich Ihre Eltern, wenn Sie dieses Risiko auf sich nehmen?
Sie unterstützen mich in dem, was ich tue. Meine Erfahrungen sind aber nicht wirklich einzigartig. Ich sehe mich nicht als Anführer der Bewegung. Alle Hongkonger stehen unter Druck. Es ist eine schwierige Zeit.
Ihr Ausschluss von den Wahlen zeigt, dass in Hongkong noch immer David gegen Goliath kämpft. Woher nehmen Sie die Energie, weiterhin für Ihren Traum zu kämpfen?
Die Hongkonger Demokratiebewegung ist aktuell an ihrem Höhepunkt angelangt. Wir könnten uns natürlich niedergeschlagen oder deprimiert geben. Aber ich denke, der Kampf für die Demokratie ist notwendig. Nur so kann ein Prozess angestossen werden, wie er im letzten Jahrhundert in Taiwan und Südkorea geschehen ist.
Sie sprechen inzwischen auf der ganzen Welt über Hongkong, Sie kandidieren bei Wahlen. Ist Ihr Leben noch immer mehr als Politik und Aktivismus, wie Sie es vor einigen Jahren sagten?
Ich bin ein Hongkonger, der hofft, etwas zu seiner Stadt beitragen zu können. Dabei bin ich vielleicht nicht so professionell wie die Anwälte, die Demonstranten vor Gericht verteidigen, oder die Ärzte, die sogar deren Leben retten können. Meine Aufgabe ist es, der Stimme der Hongkonger in der internationalen Gemeinschaft Gehör zu verschaffen. Ob man mich dabei als Campaigner, Aktivisten, Protestierenden oder Politiker wahrnimmt, spielt nicht wirklich eine Rolle.
Die Proteste werden gewalttätiger – auf beiden Seiten. Wie denken Sie darüber?
Ausgelöst wird die Gewalt durch die Polizei, die eine globale Stadt wie Hongkong in einen Polizeistaat verwandelt hat. Die Menschen greifen zur Gewalt, um sich selbst zu verteidigen.
Nach der Regenschirm-Revolution sagten Sie: «Alles kam zu schnell. Ich habe keine Ahnung, wo ich in fünf Jahren sein werde.» Sind Sie zufrieden mit dem, was die letzten fünf Jahre gebracht haben?
Wir sagten damals nach dem Ende der Proteste, dass wir zurückkommen würden. Und jetzt sind wir mit noch grösserer Entschlossenheit zurück und werden diesen Kampf weiterkämpfen.
Und wo werden Sie in fünf Jahren sein?
Das ist schwer zu sagen.
Haben Sie noch Freizeit?
Nein.
Überhaupt keine?
Nein.
Der Kampf nimmt Sie komplett ein?
Ja. Aber ich denke, er ist es wert. Die Werte, für die wir kämpfen, ermutigen uns, ihn fortzusetzen. Wir sollten nicht unter der Bedrohung Chinas, des grössten autoritären Regimes der Welt, leben müssen. Wir wollen frei von Angst leben können.