Historiker Heinrich-August Winkler über die Führungsrolle Deutschlands in der EU und das Verhältnis zu Amerika
«Einen deutschen Sonderweg kann es nicht geben»

Eine Führungsrolle Deutschlands liegt auch in Europas ureigenem Interesse.
Publiziert: 02.09.2015 um 17:01 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 00:42 Uhr
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Heinrich August Winkler gilt als der einflussreichste zeitgeschichtliche Deuter seiner Historiker-Generation. Soeben erschien sein neustes Buch: «Zerreissproben – Deutschland, Europa und der Westen».
Foto: Dominik Butzmann
Interview: René Lüchinger

BLICK: In Europa geht die Angst um: Deutschland strebe wieder nach der Hegemonialmacht.
Heinrich August Winkler:
Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land Europas. Dies bürdet dem Land hohe Verantwortung auf. Es gilt den Zusammenhalt der EU und des transatlantischen Bündnisses zu wahren.  Wenn Deutschland auf die Einhaltung der Kriterien des Maastricht-Vertrages als Voraussetzung einer funktionierenden Währungsunion drängt, liegt das in der zwingenden Logik einer Währungsunion und ist nicht nur deutsches Interesse.

Ist das alles?
Viele glauben derzeit, Haushaltsdisziplin sei eine deutsche Marotte, die sich aus einem Inflationstrauma der 1920er-Jahre erklären liesse. Richtig ist: Die Deutschen haben zu lange  den Eindruck aufkommen lassen, es gehe nur ums Sparen. Dabei geht es darum Wachstumspolitik mit strukturellen Reformen zu verbinden.

Deutschland hat die Kraft, dies einzufordern. Andere bemühen das Bild des hässlichen Deutschen.
Es ist sehr bequem, von eigenen Versäumnissen abzulenken, indem man anderen, in diesem Fall Deutschland, die Schuld in die Schuhe schiebt. Ich denke da etwa an bestimmte Parolen der Berlusconi-Presse in Italien.

Vielleicht ist die Erstarkung Deutschlands für andere einfach noch gewöhnungsbedürftig.
Deutschland erlebt gelegentlich unfreundliche Reaktionen, wie sie auch die USA immer wieder hervorgerufen haben. Es ist ein Reflex von wirtschaftlichem Erfolg und relativer politischer Stabilität.

Der hässliche Deutsche ist also nur neidvolles Fantasiegebilde?
Es gibt den Typus des hässlichen Deutschen. Dazu genügt der Blick auf die Demonstrationen gegen Asylbewerberheime und Flüchtlinge etwa im sächsischen Heidenau. Es existiert also auch in Deutschland ein Untergrund des nationalistischen Ressentiments und der fremdenfeindlichen Borniertheit. Aber das ist kein deutsches Spezifikum.

Dennoch: Die Führungsrolle Deutschlands ist eine natürliche Folge der Wiedervereinigung?
Bundespräsident Joachim Gauck hat die Deutschen gemahnt, sich weder grösser noch kleiner zu machen, als sie sind. Und er hat ein höheres Mass an aussenpolitischer Verantwortung eingefordert, das der wirtschaftlichen Stärke des Landes entspricht. Da hatte er recht. Denn es gibt in Deutschland auch eine nationalpazifistische Unterströmung, eine Neigung, aus Weltkrieg und Holocaust, die Konsequenz zu ziehen: Deutschland dürfe sich an keinerlei militärischen Aktionen unter dem Dach der Völker­gemeinschaft beteiligen. Aber: humanitäre Interventionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen, die westliche Demokratien aktiv werden lassen, erlauben Deutschland keine prinzipielle Verweigerung.

Es gab in der deutschen Geschichte den Sonderweg, weil es nur schwache freiheitliche Traditionen gab. Ist dies Vergangenheit?
Ein deutscher Sonderweg, der uns wegführt von den westlichen Demokratien, wäre ein Rückfall hinter das, was wir an politischem Selbstverständnis seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt haben. Sonderwege haben uns immer in die Irre geführt. Ein unbedingter nationaler Pazifismus wäre ein neuer Sonderweg.

Was bedeutet das für die Partner innerhalb der EU?
Der frühere polnische Aussenminister, Radek Sikorski, hat vor Jahren Deutschland aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen. Es gibt aber auch die anderen, die von einer neuen deutschen Frage sprechen, weil sich die Europäer angeblich wieder mit der Bewältigung deutscher Macht auseinandersetzen müssen.

Geht es darum?
Unter der deutschen Frage verstand man das ungeklärte Verhältnis von Einheit und Freiheit – das ist eindeutig geklärt durch die Wiedervereinigung 1990 in Frieden und Freiheit. Sie war auch immer eine Frage der Grenzen und des Territoriums. Diese Frage ist geklärt worden durch die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neisse, womit auch das andere Jahrhundertproblem, die polnische Frage, gelöst wurde. Das Problem der europäischen Sicherheit ist gelöst durch die Einbindung des wiedervereinigten Deutschland in das Atlantische Bündnis und die EU.

Was ist dann das Problem?
Die europäische Frage ist weiterhin so offen, wie sie im Maastricht-Vertrag belassen wurde. Dieser hat die Währungsunion klar umrissen, im Wesentlichen der deutschen  Vorstellung entsprechend, während das Ziel der politischen Union vage blieb. Helmut Kohl hatte immer betont, dass Währungs- und politische Union zusammen kommen müssen. Nach dem Fall der Mauer hat der damalige französische Staatspräsident François Mitterrand gesagt: Lasst uns jetzt die Währungsunion vorziehen, damit die Mark, das Unterpfand deutscher Stärke, in einer europäischen Währung aufgehen kann. Die politische Union ist zurückgestellt worden. Kohl hat sich darauf eingelassen, weil er die Wiedervereinigung nicht mit einem deutsch-französischen Zerwürfnis belasten wollte.

Das ist der Geburtsfehler des Euro.
So ist es. Wir haben eine Währungsunion ohne Fiskalunion, ohne politische Union, und es zeigt sich seit dem Beginn der Weltfinanz- und Schuldenkrise, dass die Stabilisierung der Währungsunion eine Harmonisierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitiken verlangt.

Die Frage, ob es ein deutsches Europa gibt oder ein europäisches Deutschland, ist falsch gestellt?
Ja. Ein Staatenverbund wie die EU verträgt nicht die Idee der Hegemonie eines einzelnen Staates. Und wenn Deutschland darauf besteht, dass die Regeln auf denen der Euro beruht, eingehalten werden, dann ist das eine europäische Position und nicht ein Ausdruck von deutschem Nationalismus. Nationalistisch verhalten sich die, die im nationalen Interesse meinen, von den in Maastricht vereinbarten Regeln abweichen zu können.

Neuer Nationalismus in Europa?
Ich vermute eher, dass es eine deutsche Illusion war, zu glauben, wir lebten in einer postnationalen Welt, in einem postnationalen Europa.

Sondern?
Deutschland ist ein postklassischer Nationalstaat, wie alle EU-Mitgliedsstaaten auch, die einige Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder auf supranationale Einrichtungen übertragen haben. Andere Staaten haben nie daran gedacht, sich von der Idee der Nation zu trennen. In allen europäischen Staaten lässt sich beobachten, dass in Krisenzeiten der Nationalstaat zur ersten Adresse wird, an die sich die Bevölkerung mit ihren Sorgen wendet. Europa, die EU, wird die Nationen nicht überwinden, aber sie kann die Nationen überwölben.

Sie sagen, es gebe für das Europaprojekt keinen Grundkonsens mehr. Ein Widerspruch?
Es gilt zu verstehen, dass es hinsichtlich der Voraussetzungen einer dauerhaften Stabilisierung der Währungsunion den notwendigen deutsch-französischen Grundkonsens nicht gibt. Ein solcher müsste den Schein-Gegensatz zwischen Wachstum und Haushaltkonsolidierung überwinden und eine Wachstumspolitik ermöglichen, die überfällige Strukturreformen fördert.

Auch in gesellschaftspolitischen Fragen ist kein Grundkonsens sichtbar.
Wir beobachten mit grosser Sorge, dass in einigen EU-Mitgliedsstaaten die Grundregeln von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verletzt werden. Wenn ich auf Ungarn unter dem rechtskonservativen Viktor Orban blicke, dann ist da von der europäischen Grundrechte-Charta wenig zu spüren. Orban spricht von einer illiberalen Demokratie und bekennt sich zu autoritären Vorbildern wie Russlands Putin. Das ist unvereinbar mit dem Selbstverständnis der EU. Wir haben in Rumänien einen angeblich sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, Victor Ponta, der von der Staatsanwaltschaft belangt wird wegen Urkundenfälschung und Korruption.

Werden da gerade die Werte des Westens ausgehöhlt?
Der Westen steht in einer gewaltigen Bewährungsprobe. Hervorgerufen ist dies durch das zeitliche Zusammentreffen mehrerer Krisen. Da ist die Ost-West-Konfrontation um die Ukraine, dann die vom Nahen und Mittleren Osten ausgehende Globalisierung des islamistischen Terrors und die dadurch zum Teil hervorgerufene Migrationswelle. Was Letzteres angeht, da stehen in der Tat die westlichen Werte auf dem Spiel.

Inwiefern?
Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, was das Bekenntnis zu den Menschenrechten angeht, wenn wir so tun, als würden diese Menschenrechte nur in westlichen Demokratien gelten. Aber wir dürfen auch nicht mehr versprechen, als wir halten können. Weder Europäer noch Amerikaner können auf ihren Territorien die Probleme der Dritten Welt lösen. Wir brauchen dringend eine wechselseitige transatlantisch-europäische Abstimmung der Flüchtlings- und Migrationspolitik. 

Es dominiert nationaler Egoismus.
Die Weigerung einiger Staaten, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, ist in der Tat eine der grössten Herausforderungen, die die EU je erlebt hat. Das Wort von der Wertegemeinschaft der EU würde zur Makulatur, wenn wir eine Politik des Egoismus in den Einzelstaaten hinnehmen. Die EU ist weit entfernt von einem minimalen Konsens zur Bewältigung der Flüchtlingsströme und über politisches Asyl.

Das andere Problem heisst Russland. An Russland entscheidet sich das europäische Schicksal in der Welt. Wohin geht Putin?
In Russland ist seit den 1990er-Jahren eine Tendenz absehbar, die weg führt vom Westen. Als im Dezember 1989 sich Gorbatschow und der ältere Bush auf Malta zu einem amerikanisch-sowjetischen Gipfel trafen, sprachen Bush und Aussenminister James Baker von den westlichen Werten. Worauf Gorbatschow sagte: «Das sind auch unsere Werte.» Und als Bush bemerkte, das sei nicht immer so gewesen, schlug Baker vor, von demokratischen Werten zu reden. Darauf hat sich Gorbatschow sofort eingelassen.

Dieses Bekenntnis ging verloren.
Unter seinen Nachfolgern wurde das sehr rasch fraglich. In den 1990er-Jahren konnten wir eine steigende Bedeutung der Orthodoxie in Russland feststellen sowie eine wachsende Resonanz ihrer antiwestlichen Propaganda. Putin hat von Anfang an einen Pakt mit der orthodoxen Kirche zu einer Grundlage seiner Herrschaft gemacht. Er hat die Justiz gleichgeschaltet und die Opposition unterdrückt. Sein Regime ist immer autoritärer geworden. 

Ist die alte europäische Tradition in Russland zu Ende gegangen?
Ihrem Selbstverständnis nach fühlt sich die Mehrheit der Russen offenkundig nicht dem Westen zugehörig. Da wird eine russische Eigenart gepflegt, die eben auch weit in die Vergangenheit zurückreicht. Russland hat eine völlig andere Entwicklung genommen als die Staaten des Westens. Es gab nicht einmal ansatzweise eine Trennung von geistlicher und weltlicher, von fürstlicher und ständischer Gewalt. Da fehlt die westliche Freiheitstradition.

Putin agiert rückwärtsgewandt?
In weiten Teilen ja. Putin hat es versäumt, die russische Wirtschaft zu modernisieren. Diese Volkswirtschaft der russischen Föderation ist so einseitig auf Rohstoffe fixiert, wie das für die Sowjetwirtschaft galt. Das war einer der Gründe für deren Niedergang. Diesen Mangel, diese Rückständigkeit versucht Putin mit einem forcierten Nationalismus auszugleichen. Die Annexion der Krim war da bisher der spektakuläre Höhepunkt und der dramatischste Völkerrechtsbruch in Europa seit 1945.

Sind das Grossmachtsfantasien, die da ausgelebt werden?
Die aggressive Haltung, die Russland gegenüber der Ukraine einnimmt und die Unterstützung russischer Separatisten im Donbass: All das zeigt das Streben von Putin zur Wiederherstellung eines Imperiums, das dem Zarenreich vielleicht mehr ähnelt als der Sowjetunion.

Die USA sind der traditionelle Verbündete Europas. Dort verlieren die europastämmigen Ostküsten-Amerikaner an Einfluss. Was bedeutet das für Europa?
Obama hat versucht, die unilateralen Exzesse unter George W. Bush zu korrigieren. Dazu gehört der militärische Rückzug aus dem Nahen Osten, der eben auch seine Kehrseite hat. Diese heisst Anarchie, eine Zerreisprobe einer ganzen Weltregion. Das hat Obama veranlasst, diese Rückzugstendenz behutsam zu korrigieren und sich doch wieder stärker im Kampf gegen den IS zu engagieren. Europa wurde sich selbst überlassen. Das Oval Office setzte darauf, dass Deutschland eine Reihe von Aufgaben übernehmen würde, die vorher von den Amerikanern als ihre Domäne angesehen wurden.

Europa steht nicht mit dem Rücken zu den USA?
Wir haben zwar als Europäer viele Kontroversen mit den USA, etwa über all das, was mit dem Stichwort NSA verbunden ist. Wir streiten über die Todesstrafe, über das Verhältnis von Politik und Religion, über so­zialstaatliche Verantwortung. Aber wann immer Amerikaner und Europäer über grundsätzliche Fragen streiten, sind es Meinungsverschiedenheiten über die unterschiedliche Auslegung  gemeinsamer Werte. Diese gemeinsamen Werte stammen aus dem späten 18. Jahrhundert. Es sind die unveräusserlichen Menschenrechte, wie sie zu allererst 1776 auf britischem Kolonialboden in Virginia formuliert wurden und 13 Jahre später dann ihren Einzug in Europa gehalten haben, durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte seitens der Französischen Nationalversammlung, August 1789. Das ist das transatlantische, das normative Projekt des Westens. Die Amerikaner haben keine engeren Verbündeten als die Europäer.

Das bedeutet: Die amerikanisch-europäischen Verbindungen sind stark genug, auch Entfremdungen durchzustehen. Und Europa muss selbstbewusster Verantwortung übernehmen, die früher vielleicht Amerika übernommen hat.
Ja. Europa muss lernen, in wichtigen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Wenn es weltpolitisch eine wichtige Rolle spielen will, muss es sich auf das besinnen, was sowohl die europäischen Staaten untereinander wie Europa mit den nordamerikanischen Demokratien, verbindet. In dieser westlichen Wertegemeinschaft müssen die Europäer eine konstruktive Rolle spielen und das können sie nur, wenn sie viel stärker in aussen- und sicherheitspolitischen Fragen zusammenwirken – als bisher.

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