Hirnforscher über Extremisten
«Religiöse Fanatiker glauben, etwas Gutes zu tun»

Warum werden junge Schweizer zu Dschihad-Kämpfern? Warum Muslime zu Attentätern? Sind sie allesamt gehirngewaschen? Antworten von Lutz Jäncke, Hirnforscher.
Publiziert: 20.12.2015 um 21:10 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 00:20 Uhr
Lutz Jäncke (58) kennt sich mit dem menschlichen Gehirn aus. Er ist ein renommierter Neuropsychologe und -wissenschaftler an der Uni Zürich.

BLICK: Wie ist es möglich, dass junge Muslime, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, so radikalisiert werden, dass sie in den Heiligen Krieg ziehen?
Lutz Jäncke: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht automatisch Muslime als besonders gefährdet betrachten. Morde werden auch von Menschen anderer Glaubensgemeinschaften oder auch von Atheisten begangen. Jene Attentäter mit muslimischem Hintergrund sind besondere Varianten, bei denen meines Erachtens sogar die religiöse Grundorientierung verloren gegangen ist. Demzufolge ist nicht der Islam das Grundproblem, sondern eher die spezielle Persönlichkeit und die individuelle Lebensumgebung der radikalisierten Personen

Wonach suchen radikalisierte muslimische Jugendliche?
Ich denke, sie streben nach Sinn, Orientierung, klaren Richtlinien und nach persönlicher Anerkennung. Sie finden diese dann in einer falsch interpretierten Religion. Die Religion ist wahrscheinlich nur ein Interpretationsvehikel, das sich gerade anbietet. Mit Hilfe der falsch oder verzerrt interpretierten Religion konstruieren sie sich dann ihr eigenes, mehr oder weniger stabiles Weltbild, das ihnen ihr Leben erleichtert.

Werden sie mittels Gehirnwäsche auf den falschen Weg gebracht?
Man kann es als Hirnwäsche bezeichnen. Aber dann unterstellt man zu sehr, dass solche Menschen von aussen manipuliert werden. Denn eigentlich manipulieren sie sich selbst, indem sie sich auf etwas Spezielles konzentrieren und eine Art Tunnelblick auf das Leben entwickeln. Sie werden natürlich in ihrer Selbstmanipulation von anderen bereits in diesem speziellen Weltbild Verhafteten begleitet und verstärkt.

Kann jeder gehirngewaschen werden?
Das menschliche Hirn ist plastisch. Es kann im Prinzip vieles, wenn nicht gar alles lernen. Es kann sich praktisch in jedes Kultur- und Rechtssystem hineinlernen. Unter bestimmten Umständen entsteht dann daraus Hass und Gewalt. Im Prinzip kann demzufolge praktisch jeder veranlasst werden, Verhaltensweisen zu zeigen, die aus einer anderen Perspektive betrachtet, unmoralisch wären.

Wie viel hat Radikalisierung mit Intelligenz zu tun? Oder anders gefragt: je dümmer, je anfälliger?
Intelligenz ist hier unerheblich. Es ist eher eine Frage der Einstellung und der individuellen Interpretation der Welt. Wir nutzen unsere Intelligenz eher, um unser Weltbild zu erklären und häufig auch zu verteidigen. Denken Sie an Nazi-Deutschland. Die Schergen waren vielmals gut ausgebildet und in der Gesellschaft verankert. Es ist etwas anderes, was den Schalter kippen lässt.

Nämlich?
Es hängt davon ab, auf welche Werte man sich konzentriert und wie man sie im Vergleich mit anderen gewichtet. Das wird im Wesentlichen durch das Umfeld, in dem man lebt und dem man sich zugehörig fühlt, determiniert. Es entsteht dann ein in sich geschlossenes Interpretationssystem. Wenn dieses durch äussere Einflüsse in Frage gestellt wird, versucht man zuerst, die äusseren Einflüsse umzuinterpretieren. Vorrangig ist, die eigenen Überzeugungen aufrechtzuerhalten.

Warum sind gewalttätige Fundamentalisten so überzeugt von ihrem Tun?
Wenn wir von irgendetwas total überzeugt sind, dann interpretieren wir die Welt so, dass unsere Überzeugungen erhalten bleiben. Man kann solche Phänomene sehr eindrücklich bei religiösen Fanatikern erkennen. Sie sind zutiefst überzeugt, an etwas Gutes und Wichtiges zu glauben. Das kann sie dann zu Verhaltensweisen veranlassen, die aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, kriminell, ungünstig, schädlich oder gar unmoralisch sind. Diese Verhaltensweisen sind dann alles andere als religiös motiviert.

Können Sie ein Beispiel machen?
Wenn ich die Berichte über einige der Pariser Attentäter lese, dann erhärtet sich bei mir der Eindruck, dass einige von ihnen vermeintlich religiöse Ansichten nutzen oder gar missbrauchen, um ihr persönliches Weltbild aufrechtzuerhalten. Die Religion ist dann nicht der Ursprung des Problems, sondern wird als Legitimation des eigenen kriminellen Verhaltens missbraucht.

Welche Gefühle haben Fanatiker zu ihren Opfern?
Oft ist es so, dass sie überzeugt sind, dass ihre Opfer nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören. Im extremsten Beispiel werden die Opfer nicht als Menschen identifiziert. Oder sie sind zumindest unwürdige Menschen oder Verbrecher, die man speziell behandeln kann. Das legitimiert dann Mord, Folter oder andere unangenehme Konsequenzen für diese Personen.

Eine ganz andere Frage: Machen Sie sich Sorgen, dass mit der muslimischen Einwanderung unsere Werte verwässert werden?
Ich würde eher vermuten, dass sich bei halbwegs gelungener Integration unser Wertesystem bei allen Menschen unabhängig von der religiösen Orientierung durchsetzen wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass prinzipiell alle Menschen auf der Welt, unabhängig von ihrer Religion, das Gleiche anstreben, nämlich Zufriedenheit, Sicherheit und Gesundheit für sich und ihre Kinder. Unsere Kultur bietet meines Erachtens hervorragende Entfaltungsmöglichkeiten, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Man muss sich lediglich auf diese einlassen und nutzen, dann wird man die Vorteile unseres Kultursystems schätzen lernen.

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