Manchmal sagt die Zeit nach der Wahl mehr über ein Land aus als der Wahlkampf, der ihr vorausging. In Frankreich, wo 58,5 Prozent der Wähler den bisherigen Präsidenten Emmanuel Macron (44) vor zwei Wochen deutlich wiedergewählt haben, ist dies der Fall.
Theoretisch müsste die Wiederwahl eines amtierenden Staatschefs für eine zweite Amtszeit von der Mehrheit der Analysten als klarer Sieg gefeiert werden. Und Macron schaffte diese Wiederwahl trotz eines hohen Masses an sozialer Wut – und trotz eines Aufschwungs der Extreme. Doch seine Wiederwahl wird nicht als Sieg gefeiert.
Frankreich braucht neue Lösungen
Stattdessen wird Macron als Präsident dargestellt, der mit dem Rücken zur Wand steht. Als ob er einen «dritten Wahlgang» erdulden müsste – vor dem Volk. Das ist das Frankreich im Jahr 2022: Es ist davon überzeugt, dass die nahe Zukunft eher eine neue Krise als neue Lösungen bringen wird. Dabei wären neue Lösungen gefragt, um auf den historischen Wählerschwund bei der traditionellen Rechten und der sozialdemokratischen Linken zu reagieren.
Die unterlegene Stichwahl-Kandidatin Marine Le Pen (53, Rassemblement National) und der in der ersten Runde ausgeschiedene Jean-Luc Mélenchon (70), Führer der radikalen Linken, sagten noch am Wahlabend, ein soziales und politisches Chaos sei programmiert. Diese Prognose kann zum Glück relativiert werden.
Tiefgreifende politische Neuformierung
Denn es gibt keinen Beweis dafür, dass sie sich bewahrheiten wird. Der erste optimistische Hinweis: Macron hat während seiner ersten Amtszeit bewiesen, dass er immer einen Weg findet und Hürden überwinden kann – auch wenn seine Entscheidungen manchmal unpopulär waren und in der Bevölkerung auf Widerstand stiessen.
Zweites Indiz: Seine Wiederwahl, die auf die Unterstützung vieler Wähler zurückzuführen ist, die in erster Linie die extreme Rechte verhindern wollten, ist ein klarer Beweis für die Ablehnung des nationalistischen, souveränistischen und antieuropäischen Rückzugs, den seine Gegnerin Le Pen propagiert hatte.
Der dritte Faktor, den man im Hinterkopf behalten sollte, wenn man das Frankreich von heute verstehen will: Das Land erlebt eine tiefgreifende politische Neuformierung, mit unbekanntem Ausgang. Besonders die gebildete französische Jugend, die sehr empfänglich für Umweltthemen ist, kann als Stütze für die neue Amtszeit Macrons dienen. Die Kluft zwischen Stadt (eher für Macron) und Land (eher pro Le Pen), die am 24. April an den Wahlurnen sehr deutlich wurde, ist überbrückbar. Die Menschen, die weit entfernt von Arbeitsplätzen, medizinischen Zentren und öffentlichen Dienstleistungen leben, haben durch ihre Protestwahl erneut gefordert, dass man sie einbezieht. Diese Bevölkerung ist nicht endgültig in den Extremismus abgedriftet – obwohl man dies befürchten musste.
Mehrheit will, dass der Präsident genügend Rückhalt hat
Die französischen Parlamentswahlen im Juni werden leider nur teilweise Antworten auf diese Fragen geben. Das Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen führt dazu, dass die Extreme sowohl links wie rechts in der künftigen Nationalversammlung (577 Abgeordnete) wohl nicht so stark repräsentiert werden – dies trotz starker Ergebnisse im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl.
Auch wenn sie in Umfragen das Gegenteil behaupten: Eine Mehrheit der Franzosen will, dass ihr wiedergewählter Präsident genügend Rückhalt im Parlament hat, um wirksam zu regieren. Es zeichnen sich drei Antworten ab, wie man in den nächsten Wochen aus dieser scheinbaren Sackgasse herauskommen kann.
Die erste liegt in den Händen von Emmanuel Macron. Es liegt an ihm, aufbauend auf den Themen Europa und ökologischer Wandel, eine Regierung vorzuschlagen, die alle vereint. Diese könnte der derzeitigen sozialdemokratisch-grün-liberalen Koalition in Deutschland sehr ähnlich sein.
Die zweite Antwort besteht darin, die Sorgen eines Teils der Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen, der durch die immer grösser werdenden Lücken im Wohlfahrtsstaat betrogen und durch Kampfbegriffe wie «grand remplacement» verängstigt wurde. Mit dem «grossen Austausch» wird die angebliche «Überflutung» Frankreichs durch mehrheitlich muslimische Einwanderer bezeichnet.
Verhindern, dass Frankreich gegen sich selbst kämpft
Die dritte Antwort liegt vor allem in den Händen des Leaders einer linken Koalition, Jean-Luc Mélenchon: Seine republikanische Haltung muss über seine revolutionären Ausbrüche siegen. Wenn er als glaubwürdige Figur erscheinen will, die in Zukunft Frankreich regieren oder sich an einer Koalitionsregierung beteiligen kann, muss er die Fragen zu seiner früheren Unterstützung für Wladimir Putin und seinem Antiamerikanismus klarer beantworten.
Die Wiederwahl von Emmanuel Macron ist darum eher eine Baustelle als ein vollendetes Werk: Er muss seine präsidiale Legitimität wieder aufbauen, um zu verhindern, dass Frankreich in den nächsten fünf Jahren seine Zeit damit verbringt, erneut gegen sich selbst zu kämpfen.
Seit 1. Mai ist Richard Werly (56) Korrespondent von Blick Romandie, er berichtet aus Paris und Brüssel über das aktuelle Geschehen in Frankreich und Europa.
Werly ist ein renommierter Europa-Experte und wurde 2020 mit dem angesehenen Jean-Dumur-Preis ausgezeichnet. Seine Einschätzungen werden oft in französischen Medien zitiert, zudem ist Werly gern gesehener Gast in Talksendungen. Sein aktuelles Buch «La France contre elle-même» erschien mitten im französischen Präsidentschaftswahlkampf und wurde hoch gelobt.
Seit 1. Mai ist Richard Werly (56) Korrespondent von Blick Romandie, er berichtet aus Paris und Brüssel über das aktuelle Geschehen in Frankreich und Europa.
Werly ist ein renommierter Europa-Experte und wurde 2020 mit dem angesehenen Jean-Dumur-Preis ausgezeichnet. Seine Einschätzungen werden oft in französischen Medien zitiert, zudem ist Werly gern gesehener Gast in Talksendungen. Sein aktuelles Buch «La France contre elle-même» erschien mitten im französischen Präsidentschaftswahlkampf und wurde hoch gelobt.